Warnung: Wenn ihr darüber nachdenkt, eine andere Sprache zu lernen, seid vorsichtig. Ihr werdet wahrscheinlich nie fertig werden, und wenn ihr einmal angefangen habt, ist es sehr schwer, jemals wieder aufzuhören.
Englisch
Lieblingsausdruck: Love it. Oder jede andere informelle Wendung, die es erlaubt, das Subjekt zu unterdrücken und das „ich“ bequem aus Gefühlsbekundungen zu entfernen. Love you, love me, love everybody. Vielleicht ist es diese Unverbindlichkeit, die meiner deutschen Muttersprache fehlt, die dazu geführt hat, dass ich mich so sehr in diese Sprache verliebt habe.
Englisches Ich: Es fällt mir leichter, intime Gedanken auf Englisch zu teilen. Vielleicht weil das Englische oft mit weniger Wörtern auskommst als das Deutsche. Ich fühle mich weniger entblößt. Auf Englisch schreibe ich einen Blog, in dem ich Dinge teile, über die ich in anderen Sprachen niemals sprechen würde.
Lernen: September 2005. Schüleraustausch nach Großbritannien. Eine berauschende Mischung aus Seitenponies, Glätteisen, Galaxy-Schokolade und Schuldisco. Und meine erste Erfahrung, mich komplett hinzugeben. Meinen Mund auf neue Weise zu benutzen. Ich erinnere mich, wie ich vor dem Sportlehrer stand, den alle heiß fanden, und ihm in die Augen sah. Meine Zunge bewegte sich zu meinen Zähnen, ein Geräusch baute sich in meinem Rachen auf: „Nerv…“, aber im letzten Moment schaltete sich mein Gehirn ein und meine Zunge schnellte zurück. Das fühlte sich falsch an. Ich hatte neulich etwas gehört: „Angespannt. Ich bin sehr angespannt, wenn dran bin den Ball beim Rounders-Spielen zu schlagen.“ Während ich Mr. Jones‘ verständnisvolle Antwort hörte, machte sich ein Schwindelgefühl breit. Ich hatte beiläufig ein neues Wort verwendet. Punktsieg, egal, ob ich den Ball traf oder nicht. Meine Zunge + ein süßer Kerl + ein Ausdruck wahrer Gefühle. Mein Rezept für Glückseligkeit seit 2005.
Spanisch
Lieblingsausdruck: Que te sea leve. Möge es dir ein Leichtes sein. Wird beiläufig zu Familie oder Freunden gesagt, bevor sie beispielsweise zur Arbeit aufbrechen.
Spanisches Ich: Vaginal. Was zur Hölle, verpiss dich, verdammt, um Himmels Willen. Was im Englischen eine Unzahl von Ausdrücken wäre, kann in einem spanischen Wort zusammengefasst werden: coño – eine abwertende Bezeichnung für Vagina. Während meines Auslandsjahres in Madrid lernte ich die Faustregel, dass informelle positive Ausdrücke normalerweise männliche Genitalien beinhalteten, informelle negative Ausdrücke die Weiblichen. Und ihre Verwendung ist im Alltag allgegenwärtig. Nach 15 Jahren mit der Sprache, davon 9 Jahre mit einem spanischen Freund, prägen diese Redewendungen meinen eigenen Sprachgebrauch und machen ihn etwas derb. Mein spanisches Ich trägt schwarz und feministische Tattoos.
Lernen: Nach meiner Liebesaffäre mit Englisch passierte mir Spanisch irgendwie ohne mein Zutun. Mit mehr Erfahrung im Sprachenlernen im Gepäck wollte ich eine neue Sprache von Grund auf lernen und diesmal ‚richtig‘. Dies und das deutsche Bildungssystem, das mich ab meinem 16. Lebensjahr verpflichtete, 5 Stunden kostenlosen Spanischunterricht pro Woche zu besuchen, bedeuteten, dass ich Spanisch nur so verschlang. Ich war jung, mein Gehirn war hungrig. Es gab kein einziges Wort, das mein Lehrer im Vorbeigehen sagte, das ich nicht abgeschrieben und auswendig gelernt hätte. Arbitrario. Ich war un hacha – eine Axt – und hackte jegliches spanische Unwissen brachial kurz und klein.
Französisch
Lieblingsausdruck: Es gibt zu viele, um sie zu zählen. Épanouissement zum Beispiel. Das Aufblühen einer Rose, aber es kann auch die persönliche Entfaltung eines Menschen beschreiben.
Französisches Ich: Croquer la vie a pleines dents, avoir l’embarras du choix, combler mes lacunes – Ich lese Wörter, aber ich sehe Zähne, die in einen saftigen grünen Apfel beißen, die erdrückende Last, zwischen all den wunderbaren Dingen wählen zu müssen, die das Leben bereithält, in dem Wissen, dass wir sie nicht alle tun können, und tiefe Lagunen, die all das symbolisieren, was ich noch lernen darf. Diese Sprache füllt meinen Kopf mit Märchen. Mein französisches Ich ist dasjenige, das dich an den Schultern packt und dir ein bisschen zu intensiv in die Augen starrt, während es flüstert: „Es gibt so viel Leben, das man aus der Schönheit eines einzigen Ausdrucks saugen kann, wir werden niemals wieder hungern.“
Lernen: Mit Französisch kam erst das Gefühl, dann die Methode. Ich LIEBE den Klang des Französischen. Und doch war es die erste Sprache, die zu sprechen Befangenheit in mir auslöste. Der Abgrund zwischen der Schreibweise eines Wortes und meiner Idealisierung seines Klangs schien unüberwindbar. Ich glaube nicht, dass meine unregelmäßige Art, es zu lernen, dabei geholfen hat. Dank meiner Spanisch- und Linguistikkenntnisse konnte ich ein paar Niveaus überspringen und direkt einen Fortgeschrittenenkurs besuchen, als ich anfing, Französisch als Nebenfach an der Universität zu lernen. In der Praxis bedeutet dies, dass ich nach zehn Jahren mit unregelmäßigem Unterricht zwar sagen kann, dass wir ohne den Abbau patriarchalischer Strukturen nie die volle Gleichberechtigung der Geschlechter erreichen werden, aber ich mir immer noch nicht sicher bin, wie ich cuillère (Löffel) sagen soll, ohne das Risiko einzugehen, stattdessen versehentlich couilles (vulg. Eier) zu sagen. Wenn man eine Sprache lernt und gleichzeitig einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht, muss man seine Schlachten wählen. Wer hat schließlich die Geduld, das Lexikon der Haushaltsgegenstände auswendig zu lernen, wenn man sich stattdessen den Podcast „Vénus s’épilait-elle la chatte?“ (Rasierte Venus ihre Muschi?) über Frauenfeindlichkeit in den Bildenden Künsten anhören kann?
Deutsch
Lieblingsausdruck: Kompetenzgerangel. Streit um Zuständigkeitsbereiche, oft im Arbeitskontext.
Deutsches Selbst: Nach 12 Jahren ohne festen Wohnsitz in Deutschland fühle ich mich in meiner Muttersprache immer weniger zu Hause. Das ist ein Schock. Ich liebe es, wie ich auf Deutsch mit hundert Meilen pro Stunde sprechen konnte, souverän durch eine endlose Abfolge von Haupt- und Nebensätzen, Genitiv, Dativ navigierte und dennoch nie das finale Partizip aus den Augen verlor, das den Satz abrunden würde. Gedankenlose Beherrschung. Es ist die Struktur, auf die ich all meine Fremdsprachenkenntnissen gebaut habe.
Verlernen: Das erste Anzeichen meiner sprachlichen Entfremdung war ein bestimmter englischer Enthusiasmus, der für nüchterne deutsche Ohren manchmal fehl am Platz war. Offenkundige Freundlichkeit gegenüber dem Postboten. Der übermäßige Gebrauch positiver Adjektive. Krass. Meine wahre Herausfordering liegt jedoch nicht in der Aussprache, Wortwahl oder Freundlichkeit, sondern in der Satzreihenfolge. Die Unmittelbarkeit des Englischen lässt sich einfach nicht auf das Deutsche übertragen und ich merke oft erst mitten im Satz, dass ich den Anfang falsch konstruiert habe. Der Schmerz, zu wissen, dass etwas nicht stimmt, aber nicht mehr das Gespür dafür zu haben, was richtig ist. Mit 31 entdecke ich also zum ersten Mal meine Muttersprache. Deutsch ist Schönheit in Präzision. Nehmen wir den Begriff Wortschatz. Auf anderen Sprachen ein schnödes ‘Vokabular’, die deutsche Version ist eine Zusammensetzung aus „Wort“ und „Schatz“ und bringt die Erkenntnis zum Ausdruck, dass jedes Wort, das ich kenne, wertvoll ist, auch die Worte, die ich für selbstverständlich gehalten habe.
Italienisch
Lieblingsausdruck: Sbagliato, falsch, inkorrekt. Italienisch und Deutsch werden im Klangspektrum oft als Gegensätze dargestellt. Das Deutsche liegt mit seinen gutturalen Konsonanten am hässlichen Ende und das Italienische schwebt in einer Sphäre opernhafter Schönheit. Tiefere Italienischkenntnisse stellen diese vereinfachte Einteilung in Frage. Scacciato, sradicato, bruciato – ich liebe es, italienische Wörter zu entdecken, die, nicht unähnlich dem Deutschen, eine Reihe vollmundiger Kanten haben.
Lernen: Mein italienischer Name suggeriert eine angeborene Sprachgewandtheit, die ich nie erlangen kann. Es ist das perfekte Gegenmittel zu meinem Perfektionismus. Mehr als die Fähigkeit, meinen Kaffee in einer weiteren Sprache zu bestellen, hat mich Italienisch gelehrt, dass eine Fremdsprache ständiges Üben erfordert. Nach einem Jahr Unterricht an der Universität und einem Sommer in Italien sprach ich früher ziemlich fließend Italienisch, aber ohne Gebrauch verkümmerte es schnell wieder. Jetzt, wo ich zum zweiten Mal einen ernsthaften Versuch mit Italienisch unternehme, gehe ich es langsam an. Das ist der einzige Weg, wenn ich vergangene Fehler nicht wiederholen möchte.
Italienisches Selbst: Die Italienische Chiara ist diejenige, die ihren Kopf vor Lachen und mit einem Hauch von Wahnsinn in den Nacken wirft, wenn sie jemanden sagen hört: „Ich kann nicht anfangen, Deutsch zu lernen, weil ich mit Französisch noch nicht “fertig” bin.“
Falls es nicht klar geworden ist: Ich glaube, dass die vollständige Beherrschung einer Sprache eine Illusion ist. Und darum geht es auch nicht. Dafür kann man KI verwenden. Beim Erlernen einer Sprache geht es um den Nervenkitzel der nie endenden Entdeckung des Unbekannten, des Selbst, des Anderen durch Worte. Es ist eine Ganzkörpererfahrung. Ich habe nach jeder meiner mündlichen Unterrichtsstunden einen Adrenalinabsturz. Ich glaube, daran denke ich, wenn ich gefragt werde, ob ich mir vorstellen könnte, wieder in ein deutschsprachiges Land zurückzuziehen. Ich bin noch nicht bereit die Euphorie aufzugeben, die das tägliche Sprechen einer Fremdsprache mit sich bringt. Ich glaube das wäre so, als würde man nach einem Leben im schillerndsten Regenbogen zu den Primärfarben zurückkehren.