Wechselgeld

Übers Ankommen

Ich wohne jetzt in Andalusien. Aus familiären Gründen. Und von all den Dingen, von denen ich glaubte, dass ich mit ihnen Anpassungschwierigkeiten haben würde (die Hitze, die Enge unseres Wohnorts, der begrenzte Zugang zu hochwertiger Hafermilch (wer bin ich?!?!?)), ist es das örtliche „Zeitgefühl“, an das ich mich am Schwersten gewöhnen kann. Kurz nach unserer Ankunft wurde klar, dass wir mit dem Umzug in eine Kleinstadt an der südlichsten Spitze Spaniens nicht nur das Land, sondern auch das Raum-Zeit-Kontinuum gewechselt hatten. Im Februar hierher zu ziehen bedeutete, vom trostlosesten Londoner Winter in den milden Frühling vorzuspulen und gleichzeitig den Alltag im Schneckentempo zu bestreiten.

Ein kürzlicher Gang zum nächstem Postamt (in einem früheren Leben wäre das eine Minute zu Fuß von meiner Wohnung entfernt gewesen) veranschaulicht meine Schwierigkeiten.

An einem Montagabend vor ein paar Wochen ging ich unschuldig zur nächsten Bushaltestelle, einem modernen Glasvordach, umgeben von Pinien und Palmen, entschlossen, ein Paket vom örtlichem (sprich: einzigem in der Stadt) Postamt abzuholen. Wellenartige maritime Motive, die auf die Glaswand der Bushaltestelle gedruckt waren, suggerierten eine Art von Bewegung und Dynamik, die mir bei meinem Erlebnis dort fehlen würde. Der laminierte Fahrplan zeigte nur die Sommerfahrzeiten, also lud ich die spezielle „Echtzeit“-App über einen QR-Code herunter. Sie führte mich zu einer PDF-Version des laminierten Blattes, das ich vor mir hatte. Google Maps auf meinem britischen Handy erkannte den Bus, der hier halten sollte, nicht einmal, und die App auf meinem spanischen Handy sagte, der Bus hätte vor zwei Minuten ankommen sollen. Ich verwarf die Option, 1 Stunde und 6 Minuten zu laufen, ließ mich nieder und starrte auf den palmenbewachsenen Kreisverkehr in der Hoffnung mit meinem Blick den Bus heraufzubeschwören.

Temperamentvolle Zeitpläne sind hier ein wiederkehrendes Motif. Als ich versuchte, eine kommunale Verwaltungsgebühr bei einer Bank zu bezahlen (fragt nicht), kam ich zur Öffnung der Filiale um 8 Uhr morgens an und sah mich einem Schild gegenüber, auf dem stand, dass Nicht-Kunden nur dienstags und donnerstags zwischen 8:30 Uhr und 10:30 Uhr zwischen dem 12. und 24. eines jeden Monats bedient würden (aber um Kundin zu werden, brauchte ich das Verwaltungspapier, das ich bezahlen wollte!). Mein neuer Wohnort. Wo man einfach wissen und akzeptieren muss, dass Sachen passieren, wenn sie passieren.

Das sagenhafte Bankschild in seiner ganze Pracht. Man könnte es sich nicht besser ausdenken.

Eine Dieselwolke riss mich aus meinen Grübeleien und machte mich auf die Ankunft des Wunderbusses aufmerksam. Doch leider war die Schlacht noch lange nicht gewonnen. Als wir erst einmal im Bus waren, kroch dieser drei Haltestellen in die entgegengesetzte Richtung, in die ich eigentlich fahren wollte, und hielt dann an einer Aussichtsplattform mit Blick aufs Meer. Ich sah meine Mitreisenden an und sehnte mich nach einem verständnisvollen Nicken in Anbetracht unseres geteilten Leids, doch niemand machte Anstalten, auszusteigen oder auch nur die ungewöhnliche Wartezeit zur Kenntnis zu nehmen. Wenn überhaupt, begannen alle noch enthusiastischer zu plaudern.

Der Anblick dreier Mitreisender, die ihre Köpfe zusammensteckten, erinnerte mich an meinen Termin bei der örtlichen Polizeiwache eine Woche zuvor. Ich musste eine Identifikationsnummer beantragen, weil ich als Ausländerin in diesem Land bin. Es brauchte drei erwachsene Männer, um meinen Antrag zu bearbeiten. Einer brachte mich zum Büro und buchstabierte (!) meine Antragsdetails. Einer tippte meine Details in den Computer ein. Ein Dritter machte eine Fotokopie meines Antrags und meiner Ausweisdokumente. Es fühlte sich fast an wie ein Wettbewerb mit versteckter Kamera, um herauszufinden, wie viel Zeit und Personal man für eine einzige Verwaltungstransaktion aufwenden kann. Mein neuer Wohnort. Warum Dinge schnell und allein tun, wenn man sie in einer Gruppe langsam erledigen kann.

Wolken = meine Gemütslage

Nach 15 Minuten Schnappatmung gen Horizont, fuhr der Bus schließlich dorthin, wo ich seit 90 Minuten hinwollte. Bei der Post machte ich mich wieder ans Warten. Da es die einzige Post in der Stadt ist, kann man froh sein, wenn sich die Schlange nicht um das Gebäude herumwindet. Ungläubig beobachtete ich, wie ein alter Mensch nach dem anderen dem Postbeamten seine Zahlungen in Kleingeld vorzählte. Seit der Einführung der Selbstbedienungskassen in London war dies ein Anblick, von dem ich gehört, den ich aber nur selten gesehen hatte. Mein neuer Wohnort: Warum mit Karte zahlen, wenn man eine gefühlte Ewigkeit nach Kleingeld tasten kann. Und doch. Der zögernde Rhythmus des Klirrens, mit dem jede neue Münze sich zu ihren Artgenossen auf ein kleines schwarzes Plastiktablett gesellte, hallte von den Marmorfliesen der Post wider wie ein langsamer, stetiger Herzschlag. Ich spürte, wie meine Schultern sanken und meine Fäuste sich öffneten. Es ist schwer einen Boxkampf gegen den Lauf der Zeit zu gewinnen.

Mit meinem Packet endlich in der Hand und dem Klingeln der Münzen noch in den Ohren ging ich zurück zur Bushaltestelle und ließ mich nieder. Nach einer unbestimmten Zeitspanne (zu diesem Zeitpunkt war ich jenseits von gut und böse, geschweige denn an der Uhrzeit interessiert) bog der Bus um die Ecke, ich stieg ein – einen Moment – und begann, mein Wechselgeld zu zählen, während sich hinter mir eine Schlange bildete …

Offenbar kann die Welt warten.

Und die Busse akzeptieren hier eh keine Kartenzahlung.