Von einer Reise nach Schottland

Hinweis: Einige der Ansichten in diesem Text sind möglicherweise den spezifischen Bedingungen geschuldet, unter denen ich sie geschrieben habe: Auf dem Mittelsitz – im Mittelgang – gesäumt von bein- und lungenstarken Babys – auf einem transatlantischen 7-stündigen Arbeitsflug.

Einsame Strände, eine Reisegruppe, die enthusiastisch in die Kamera grinst– in der Woche vor meinem Spätsommerurlaub waren die Reklametafeln auf meinem Weg zur Arbeit mal wieder voll mit Reisewerbung. Gründe, sich in Anbetracht des vor einem liegenden Arbeitstages nicht vor den Zug zu werfen.

Obwohl ich die Anzeigen sehe, könnten diese Bilder nicht weiter von meinem Traumurlaub entfernt sein. Was mit einer harmlosen Eurostar-Reise vor ein paar Jahren begann, hat sich zu einer regelrechten Eisenbahnversessenheit entwickelt. Die Symptome sind under anderem: die Bereitschaft Unsummen für diese bestenfalls mäßig bequeme Art des Reisens auszugeben und wachsendes Unverständnis darüber, warum irgendjemand in seinem hart verdienten Urlaub auf die Idee kommen könnte, etwas anderes zu tun, als stundenlang in Zügen zu sitzen.

Und so kommt es, dass ich letzte Woche in die schönste Ecke des Landes (= Schottland) gereist bin und ich nur davon erzählen möchte, wie ich dorthin gefahren bin …

0 Stunden nach Reisebeginn

Wir kommen um 20:50 Uhr in einer versteckten Ecke im Euston-Bahnhof an und haben noch 10 Minuten bis wir in den Schlafzug nach Fort William einsteigen können. Da wir durch keine Sicherheitskontrollen müssen, haben wir Zeit, unter unseren Mitreisenden Kandidaten auszumachen, die Charaktere in der Agatha-Christie-Version unserer Reise sein könnten.

Die weißhaarige Frau mit den spähenden Augen hat definitiv Detektivpotenzial. Ihr leuchtend gelber Regenmantel soll uns wahrscheinlich ein falsches Gefühl von Niedlichkeit vermitteln, während sie gnadenlos unsere dunkelsten Geheimnisse seziert. Noch ein Paar wie wir – also eines, bei dem es offensichtlich ist, dass er sich hat breitschlagen lassen seinen 2-Meter-Körper in ein Schlafzug-Hochbett zu zwängen, weil sie dachte, es wäre ‘spaßig’, mit dem Zug nach Schottland zu fahren #wahreliebe #sorrynotsorry #DankeA. Auf den ersten Blick wirken sie unschuldig, aber unter der Oberfläche brodelt ein potenziell mörderischer Groll. Und dann ist da noch die amerikanische Rentner-Reisegruppe. Den kreischenden Anweisungen ihrer Reiseleiterin nach zu urteilen, klingt es so, als ob es in unserem Zug mindestens eine Person geben wird, die nichts dagegen hätte, ein oder zwei Reisende zwischen Glasgow und Fort William über Bord zu werfen. Ein Paar mit Steppweste und Dackel stolziert an uns vorbei in die Wartelounge der ersten Klasse. Wie schafft der Hund es auf dieser 12-stündigen Nachtfahrt nicht ins Abteil zu pinkeln?! Im Ernst, wie geht das? Und könnte ein wildes Gerangel, um Hundeexkremente loszuwerden, der Anfang eines Verbrechens sein?!

15 Minuten später

Wir beziehen unsere Kabine. Der Teppich ist kariert. Die Wände sind kariert. Die Matte auf dem Klapptisch ist kariert. Jemand hat sich offensichtlich alle Mühe gegeben, zu zeigen, wie viel Karomuster man auf engstem Raum verwenden kann. Für den Fall, dass wir mitten in der Nacht aufwachen und vergessen, wohin wir fahren. Ein Schottenkaro-Sarg. Aber im Moment sind wir noch ganz vernarrt in das Ganze. Also schauen wir uns nur an und sagen ohne Ironie: „Was für ein Abenteuer.“

30 Minuten später

Ich wuchte mich auf das Etagenbett, während du dich an die Wand drückst, um Platz für meine schwingenden Extremitäten zu machen. Ein weiterer Intimitäts-Meilenstein ist erreicht. Du wusstest nicht, dass wir uns eine Toilette mit den anderen Passagieren teilen würden, aber du stimmst zu, dass das wahrscheinlich deinem schlechten Gedächtnis zuzuschreiben ist. Wir werden so einen Spaß haben.

2 Stunden später

Im Speisewagen schmecken unsere Käse-Zwiebel-Toasties genau so, wie man sich etwas vorstellt, das bei schwingenden 300 km/h fabriziert wurde. Nach Geschwindigkeit und wackeligen Tabletts und Metallrädern, die über Stahlschienen schrammen. Hinter dir entdecke ich zwei Glasgower. Klischeehaftere Charaktere könnte man nicht bekommen, wenn man einen Karikaturist bitten würde einen Gangster zu zeichnen. Einer von ihnen hat Tränen auf die Wangen tätowiert. Ich bin sicher, er ist total nett. Du erinnerst dich gelesen zu haben, dass diese Tattoos Gangsymbole dafür sind, jemanden getötet zu haben. Wir hören mit dem Agatha-Christie-Spiel auf.

6 Stunden später

Ich versuche zum dritten Mal, leise aus dem Hochbett zu klettern. Ich hätte im Speisewagen wirklich keinen Pfefferminztee trinken sollen. Ein Reflex, um mich nach der Enthüllung mit den Tränentattoos zu beruhigen. Ich kann deinen Blick spüren. „Tut mir leid, wenn ich dich wecke. Schon wieder.“ Man kann meine Entschuldigung wegen des Klapperns der Tür in ihrem Scharnier kaum hören. Seit wir außerhalb von London an Geschwindigkeit aufgenommen haben, scheppert es in nervenaufreibenden Abständen durchs Abteil. Klack Klack … Klack Klack Klack ……….. KLACK. Ich räume unsere Taschen aus dem Weg. Wir haben sie strategisch gegen die Tür gestapelt, in dem verzweifelten Versuch, das Klappern zu lindern als wir noch nicht müde genug waren, uns unserem Schicksal zu ergeben.

6 Stunden und 5 Minuten

Das fluoreszierende Licht der Toilette verliert nicht an Schlagkraft, egal wie oft ich pinkeln gehe. Es spiegelt sich in einer Unzahl von Tropfen auf dem Toilettensitz wider. Kräftige Spülung oder Überreste der unsteten Erleichterung meines Vorgängers? Ich bin zu müde, um mich weiter darum zu sorgen.

8 Stunden

„Hast du es geschafft, etwas zu schlafen?“.

„Ich glaube nicht.“

10 Stunden

Die Sonne geht auf. Sie wärmt die Luft und tut etwas magisches mit den Scharnieren, damit sie nicht mehr klappern. Eine süße, süße Stille senkt sich über unsere Kabine. Wir öffnen unsere Tür und schauen auf beiden Seiten aus den Zugfenstern. Schottland-blauer Himmel erstreckt sich über endlose Seen und sanfte Hügel. Es ist ein besonderes Gefühl, die Landschaft vom Zug aus zu betrachten. Oder vielleicht ist es nur mein steifer Nacken, der mich zwingt, meinen Kopf in einem unbequemen Winkel zu halten. Das und Schlafentzug. Wir versuchen, Fotos zu machen, aber die Landschaft bewegt sich zu schnell für unsere Kameras, also müssen wir einfach sitzen und schauen. Der Zug schafft, was mir drei Meditations-Apps nicht beibringen konnten.

Ich sitze in einer Maschine, die schnell genug fährt, um die Landschaft draußen verschwimmen zu lassen, aber langsam genug, um die Buckel der unter mir herziehenden Welt zu spüren – irgendwo zwischen der Aussicht und dieser Art von Erdung muss die Magie des Zugfahrens liegen. Und die Tatsache, dass man aufstehen und sich hinlegen und herumlaufen kann und nicht für langwierige Check-ins anstehen muss. Das auch.

12 Stunden später

Um 10 Uhr morgens stolpern wir in Fort William aus dem Zug. Das Wackeln des Zuges hallt noch in meinen Knien wider, da erhasche ich schon einen Blick auf das nächste Urlaubsabenteuer direkt vor mir: Dampfwolken wabern um seine massive Gestalt, ein tiefes Grollen ertönt aus seinem Innersten. Und obwohl wir für den nächsten Tag reserviert haben, bin ich direkt neidisch auf jeden, der diesen glänzenden Koloss schon erklimmen darf. Den Jacobite Steam Train.

Während ich so im Morgenlicht stehe, voller Vorfreude und Entzücken, wird mir klar, dass es eigentlich egal ist, woher diese neu entdeckte Leidenschaft fürs Zugfahren kommt, solange ich von diesem Gefühl der Vorfreude erfüllt sein kann, das keine Reisewerbung, die ich sehe, in mir erzeugt. Solange der Zauber anhält, nehme ich also tausendmal lieber verschwommene Hochgeschwindigkeitslandschaften und den Nervenkitzel über besprenkelten Zugklobrillen zu hocken statt perfekter Filterfotos und Paddle-Boarding auf dem Atlantik.

Eine glückliche Zugreisende