Von Paresen und perfektionismus
Dies ist ein Re-Post eines Textes, den ich vor einiger Zeit veröffentlicht habe. Er handelt von einer der gruseligsten und prägendsten Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Und doch ist es so leicht, das Gelernte zu vergessen und sich in der Hektik und dem Alltagstrott zu verlieren, sobald auf der Arbeit mal mehr lot ist. Und gruselig = Halloween. Also, hier ist er noch mal. ___________________________________________________________________
Es ist seltsam, dass ich noch nicht über den Moment geschrieben habe, als ich aufwachte und die rechte Seite meines Gesichts komplett gelähmt war. Ich dachte wahrscheinlich, jeder kennt die Geschichte. Jemand hat einen Gesundheitsschreck, gefolgt von einer tiefgreifenden Offenbarung, die sein Leben völlig verändert. Ende. Obwohl ich bei allem, was ich zu wissen glaubte, nicht damit gerechnet hatte, dass meine persönliche Offenbarung so viel Sabbern mit sich bringen würde. Also, los geht’s
Vor drei Jahren wachte ich auf und mein rechtes Augenlid fühlte sich seltsam wach an. Es schien, als hätte ich über Nacht die Fähigkeit verloren, es zu schließen. Als ich versuchte, meinen Morgen wie gewohnt fortzusetzen, wurde klar, dass diese neue Unbeweglichkeit die gesamte rechte Seite meines Gesichts betraf. Bis dahin war ich als überzeugte Hypochonderin durchs Leben gegangen, die auf die kleinsten Unregelmäßigkeiten in ihrer körperlichen Verfassung mit gröϐter Beunruhigung reagierte. Also kann ich mir meine Seelenruhe an diesem Morgen nur so erklären: Ich muss völlig geleugnet haben, dass mir das, wovor ich mich im Leben am meisten gefürchtet hatte – mich mit irgendeiner mysteriösen Krankheit anzustecken – tatsächlich passierte.
Als ich mir dann beim Frühstück fast die halb gelähmte Zunge abbiss, beschloss ich, dass es wohl doch besser war, einen Arzt anzurufen. Ich war überrascht zu hören, dass mein Hausarzt mich sofort sehen wollte. Nicht, dass man mir die Überraschung angesehen hätte, denn mein neuer Gesundheitszustand führte dazu, dass mein Gesichtsausdruck permanent zwischen leicht fragend und leicht entsetzt eingefroren war.


Die Diagnose war klar – Belllähmung – eine Entzündung des Gesichtsnervs. Sie kann jeden treffen, der jemals in seinem Leben eine Virusinfektion hatte. Da der Grund, warum manche es bekommen und andere nicht, reines Pech ist, ist diese Krankheit völlig unverhinderbar und ein Albtraum für jeden Kontrollfreak. 85% der Patienten erholen sich nach 2 Wochen vollständig, wenn sie eine starke Kortisonbehandlung erhalten. Also wurde ich mit einer Tüte Medikamente und dem hilfreichen Rat, nicht an die anderen 15% zu denken, nach Hause geschickt, um mit meinem blinzelfreien rechten Auge für zwei Wochen die Decke anzustarren.

Es gab mehrere Momente, besonders nachts, in denen ich im Medikamentenrausch davon überzeugt war, dass ich einen Herzinfarkt oder eine Gehirnblutung erlitt und unmittelbar sterben würde. Aber wie ihr aus diesen Zeilen schließen könnt, erwiesen sich alle diese Befürchtungen als unbegründet.
Der schlimmste Schmerz kam tatsächlich von der Erkenntnis, wie viel Lebenszeit ich mit Gedanken an ständige Selbstverbesserung verschwendet hatte. Wenn ich nur ein bisschen hübscher, ein bisschen dünner, ein bisschen reicher, ein bisschen weiter gereist, ein bisschen gebildeter wäre – dann wäre ich glücklich.

Carlos Ruiz Zafón hat eine Kurzgeschichte geschrieben, die meine Qualen perfekt zusammenfasst. Er greift Dantes Beschreibung der Hölle als 9 Kreise auf, von denen jeder Kreis maßgeschneiderte Formen der Qual für verschiedene Arten von Sündern bereithält. In Zafóns Geschichte begleitet ein gefallener Engel einen gestressten Stadtbewohner auf seine letzte Reise in den 10. Höllenkreis. Auf diese post-dantische Ergänzung angesprochen, erklärt der Engel: Wir mussten einen weiteren Höllenkreis hinzufügen, für all jene, die durch ihr Leben gehen, als würde es ewig währen.
Ich musste nicht sterben, um in den 10. Kreis zu gelangen, ich war mittendrin! Von all den Qualen, die in Dantes Hölle beschrieben werden, fällt es mir schwer, mir eine vorzustellen, die schlimmer ist als das herzzerreißende, die Brust zusammenziehende, an den Wänden kratzende Gefühl des Bedauerns, als mir klar wurde, wie viel Energie ich darauf verschwendet hatte meine Umstände zu kritiesieren, anstelle das Leben zu feiern.
Natürlich erlange ich in der Hollywood-Version dieser Geschichte die Beweglichkeit meines Gesichts zurück, ändere mein Leben von einem Tag auf den anderen und werde eine Bestsellerautorin, die ihren Schmerz in einem autobiografischen Selbsthilfebuch mit dem Titel „Von Lähmung zur Legende– Wie ich das Leben bekam, das ihr alle wollt“ aufarbeitet. Aber ich befand mich in den erschwinglicheren Teilen von Harringay im Norden Londons. Meine Genesung gipfelte darin, dass mir ein Neurologe trocken sagte, mein Gesicht sähe “ziemlich gut” aus, als ich dachte, dass ich schon wieder wie vor der Lähmung aussah und in der Erkenntnis, dass ich überhaupt nichts “noch” zu erreichen habe, weil ich bereits alles bin, was ich verdammt noch mal sein muss.
In einer Welt des ständig drohenden Todes haben wir nur das Jetzt: den Atemzug, den ich jetzt nehme, den Himmel, unter dem ich jetzt stehe, die Menschen, mit denen ich jetzt zusammen bin. Also kann ich auch versuchen voll und ganz im Jetzt zu sein. Mich in den Moment, in dem ich mich befinde, reinzoomen anstatt drei Schritte vorauszudenken. Alles andere, was ich zusätzlich schaffe ist ein Bonus. Und dieses ‚alles andere‘ macht so viel mehr Spaß, seit ich mich von den Erwartungen meines zukunftsorientierten Ichs befreit habe.
Ihr könnt zu Recht besorgt sein, dass die größte Todesgefahr angesichts meiner neuen Einstellung von Menschen ausgeht, die das Bedürfnis verspüren, die selbstzufriedenste Person im Raum niederzudreschen. Aber selbst wenn ich mir vorstelle, wie hasserfüllte Menschenmassen mich umzingeln, wünsche ich mir nur, dass auch sie ihre ganz eigene Nahtoderfahrung machen könnten. Dass sie ein instinktives Gefühl dafür bekommen, dass in jedem Moment eine Millionen Dinge passieren können, die ihr Leben für immer beenden könnten – und was für ein unglaublicher Bullshit-Filter das ist.
Natürlich gibt es Momente, in denen meine neue Zen-Einstellung Risse bekommt und offenbart, dass der ständige Drang nach mehr immer noch in mir schlummert. Wenn die Gespärche meiner Freundinnen sich darum drehen, was sie noch alles machen wollen bevor sie 30 werden, wenn es beim Abendessen endlos um Hypotheken geht und wenn Kollegen nur an die nächste Gehaltserhöhung denken können. Aber jetzt habe ich seltene Momente, in denen ich mich nicht mitreissen lasse, sondern an den 10. Höllenkreis denke und einfach atme und blinzele – mit beiden Augen.