Über die Befindlichkeit eines 90er Babies, Existenzängste und die Freude, Lebensentscheidungen zu vertagen
Es muss ein paar Jahre her sein, ich kam unglamourös aus dem U-Bahn-Ausgang gegenüber von Bahnhof St. Pancras raus, schnaufend und keuchend und fragte mich noch wie schwarz meine Popel dieses Mal von der stickigen Pendlerluft in der Piccadilly-U-Bahnlinie sein würden, als es mich traf wie mit einem Schlag: „Ich lebe meinen Traum“. Nicht nur im übertragenen Sinne, sondern ganz wörtlich.
Fast auf den Tag genau 10 Jahre zuvor hatten meine Eltern mir zu meinem 18. Geburtstag eine dreitägige Reise nach London geschenkt. Zugegeben, die 72 Stunden, die ich mit Besuchen im Natural History Museum und der Verkoestiung von Pattisserie-Leckereien in South Kensington verbrachte, haben wenig mit meiner heutigen Lebensrealitaet zu tun, in der ich eine winzige Wohnung in Hornsey mietet und täglich eine mit Sicherheit Lungenkrebs-foerdernde Reise von Zone 3 ins Zentrum pendelte. Aber trotzdem, hätte mir damals jemand gesagt, dass ich nach ein paar Abschlüssen, schlecht bezahlten Praktika und einer schwierigen Karriereentscheidung auf dem Weg zur Arbeit ganz beiläufig an St. Pancras vorbeifahren würde, hätte ich ihm empfohlen, ein MRT machen zu lassen.
Meine Liebe zu den Britischen Inseln begann in meinen frühen Teenagerjahren. Während eines Schulaustauschs nach Toton in der Nähe von Nottingham veränderte ein berauschender Mix aus S-Club Seven-Songs, Galaxy-Minstrels und der Entdeckung von GHD-Haarglätteisen – ihr ratet richtig, es war Anfang der 2000er – meine Sicht auf die Welt für immer und ließ mich unter meinem krausen Haarschopf davon träumen, nach der Schule ins Vereinigte Königreich zu ziehen.
Man sollte meinen, dass die Realität aus Wartelisten des NHS, des Brexits und des grotesken Anblicks von Menschen, die nur wenige Meter von auberginefarbenen Sonderedition-Lamborghinis entfernt auf der Straße schlafen, diesem Charme inzwischen etwas genommen hätten – aber dann sitze ich im Garten einer Freundin und verwechsele die Geräusche eines nahegelegenen Schießstandes mit einem Specht, und mir wird klar: Nein, meine Verklärung, was das Leben in London angeht, sitzen immer noch tief wie eh und jäh.
Es müssen die gotische Pracht aus rotem Backstein des viktorianischen Bahnhofsgebäudes und der Beinahe-Zusammenstoß mit einem Touristen gewesen sein, der Fotos von besagter Pracht machte, die meine morgendliche Monotonie an diesem Tag durchbrachen und mich an meine märchenhaften Umstände erinnerten. Inmitten des täglichen Trotts, waehrend ich mich als Mittzwanzigerin mit Literaturstudium und Arbeiterkindhistorie in einer der teuersten Städte der Welt durchschlug, hatte ich irgendwann angefangen meinen Traum zu verschlafen.
Also, nur für einen Moment, dort auf dem Bürgersteig, konnte ich fast spüren, wie sich das Leben für jemanden anfühlt, der #blessed unironisch verwendet. Seit ich mit 13 zum ersten Mal einen Fuß nach Toton gesetzt hatte, war das Ziel, in London zu leben und zu arbeiten, mein Leitfaden, und ich hatte sein Ende erreicht. Doch statt eines Topfes voll Gold und eines glücklichen Lebensendes oder was auch immer man am Ende dieser Dinge finden soll, überkam mich sofort ein Gefühl der Furcht. Und eine eklatante, beängstigende, gähnende Leere in mir, die Raum für nur eine Frage ließ – „Und. Was. Jetzt?“
In den paar Jahren nach dieser Erkenntnis überlegte ich, den üblichen Weg für eine weiße Cis-Frau in einer festen Beziehung mit einem regelmäßigen Einkommen in den Dreißigern einzuschlagen. Aber so sehr ich auch auf meine innere Stimme hörte, als ich sah, wie Freunde Haustiere adoptierten, Hochzeiten feierten, Familien gründeten, Hypotheken aufnahmen und um die Welt reisten, ich konnte nicht das geringste Gefühl von Neid, Eifersucht oder Verlangen spüren, das darauf hindeutete, dass ich mir irgendetwas davon für mein eigenes Leben wünschte.
Währenddessen ließen mich immer größere Probleme in Form von globaler Erwärmung, Pandemien und Rezessionen daran zweifeln, ob diese Träume etwas sind, das ich überhaupt erreichen kann oder sollte.
Also tue ich stattdessen das, was jedes Neunzigerjahre-Mädchen mit einer riesigen Portion Existenzangst und ohne Geld für einen Therapeuten tun würde – ich schreibe einen Blog. Um zu verstehen, welche Art von Geschichten über Weiblichkeit und Liebe und Kultur und Erfolg wir uns so erzählen und ob sie tatsächlich zu Glück führen. Zumindest ermöglicht mir dieses Schreien in die digitale Leere, Entscheidungen im echten Leben vorerst auf einen anderen Tag zu verschieben.