Neues Jahr, altes Ich

Was wenn mein innerer Schweinhund eigentlich ganz gerne Yoga macht?

Glatthäutig. Spricht fließend 10 Sprachen. Ist geschickt am Klavier, krass in Selbstverteidigung, belesen zu Wirtschaft, Weltgeschichte, Philosophie, Mythologie und Politik. Unglaublich Zen. Ein Partytier. Begabt im Zeichnen. Geschickt im Investieren. Ich präsentiere das unerreichbarste aller Wesen: mein ideales Selbst.

Über Jahrzehnte hinweg wohnte dieser Jahreszeit ein besonderer Zauber inne. Mit all den Verwandlungsversprechungen, die der Januar mit sich bringt, fühlte es sich immer wie eine einmalige Gelegenheit an, endlich die Distanz zwischen der, die ich war, und der, die ich werden wollte, zu überbrücken. Das Einzige, was nötig war, um alle meine Unzulänglichkeiten auszugleichen? Das perfekte Verwandlungsritual. Da meine Feeds diese Woche von Selbstverbesserungs-Podcasts und Produktivitäts-Hacks überflutet sind, dachte ich, es wäre ein guter Zeitpunkt, darauf zurückzublicken, wie nah diese Art von Neujahrs- und Selbstverbesserungsvorschlägen mich in der Vergangenheit an mein ideales Selbst gebracht haben.

Visionboards

Unabdingbare Utensilien: Frauenzeitschriften (zur spirituellen Führung (sprich: Indoktrination), denn wie sonst könnte ich wissen, wer ich werden soll. Die Bilder in den Zeitschriften dienen auch als Material für meine Visionboard-Collage); Unmengen an Snacks, auf die ich im Rahmen des Visionboard-Rituals für eine strahlende Haut ab dem nächsten Tag verzichten werde.

Das erste Transformationsritual, an das ich mich erinnere, ist das der Visionboards. Angetrieben von Teen Glamour war ich davon überzeugt, dass, wenn ich nur fest genug an glatte Haut und einen süßen Jungen mit Hilfe einer Postercollage dachte, diese wie aus Zauberhand erscheinen würden. Teenager-Fantasien, Bastelpapier und ein Selbst, das mit Dekoklebeband zusammengehalten wird. Traurigerweise tauchte Henry Cavill nie auf, egal wie sehr ich seine Werbebilder betrachtete, also musste ich die Sache selbst in die Hand nehmen.

Ein Superman-Freund und müheloser French-Girl-Chic. Ich schätze, man kann eine sehr gerade Linie zwischen der Werbung der frühen 2000er und meinen Teenagerträumen ziehen.

Gewohnheitstracker

Unabdingbare Utensilien: Schreibwaren, von denen man nicht wusste, dass es sie gibt, die aber vom Moment der Entdeckung unabdingbar erscheinen, um ein vollwertiger Mensch zu sein; Bücher über Bullet Journaling, Nudging, die Neurologie der Gewohnheiten usw. vorzugsweise geschrieben von einem reichen, weißen Start-up-Boy aus San Francisco, der auch Hobbypsychologe ist; ein schickes Notizbuch zum Tracken, das sich nie ganz richtig anfühlt, sodass man immer neue kaufen muss.

Nun kommt also die Phase des Gewohnheitstrackers und damit unzählige Versuche, auch nur den leisten Hauch eines unproduktive Triebs dem Diktat eines 4 x 5 cm großen Rasters zu unterwerfen, mit genügend Kästchen, um jeden Tag im Monat abzuhaken, an dem ich Yoga gemacht oder keinen Zucker gegessen oder mein Französisch geübt habe. Natürlich folgten auf Phasen, in denen ich jeden Tag alle Kästchen ankreuzte, lange Phasen, in denen mein Entschluss, mich zu verbessern, zusammenbrach und ich auf der Couch vor mich hin vegetierte und Galaxy Counter inhalierte, zu erschöpft, um mich zu fragen, ob die Unmöglichkeit, meine Gewohnheiten beizubehalten, auf die Unangemessenheit der Gewohnheiten zurückzuführen war oder auf meine eigenen Mängel als Frau. Ich suhlte mich im ungenügend Sein, bis sich ein weiterer Moment mit ausreichend „Neuanfangspotenzial“ bot, um meinen Tracker wiederzubeleben. Am besten montags oder zu Beginn eines neuen Monats. Denn wie sollte man an einem beliebigen Mittwoch damit beginnen, sich eine neue Gewohnheit anzueignen? Meine frühen Zwanziger = Jahre in der Wiederholungsschleife.

Seltsamerweise ließ meine intensive Konzentration auf die Gewohnheiten meines idealen Selbst nie genug Raum für die Frage, wessen Ideale ich eigentlich zu verwirklichen versuchte.

Abendroutine

Unabdingbare Utensilien: Das oben erwähnte Notizbuch, ein E-Piano, ein Kindle, eine Sprachlern-App, ein Sprachlern-Notizbuch, eine Yogamatte, ein Hula-Hoop-Reifen, wahrscheinlich ein Fitbit, obwohl ich nie eine hatte, vielleicht erklärt das am Ende alles.

Nachdem ich jahrelang immer wieder damit begonnen hatte, meine Gewohnheiten zu perfektionieren, wurde mir klar, wie dumm ich gewesen war. In meiner Eile, die Kästchen abzuhaken, hatte ich einen wesentlichen Schritt übersehen. Für den endgültigen Erfolg, musste ich alle Dinge, die ich von meiner Liste abhaken wollte, in einer ausreichend verlockenden Routine kombinieren, die mich zur Perfektion führen würde! Diesmal wirklich. Als das Tracken meiner Lieblingsgewohnheiten mit der Pandemie zusammenfiel, entstand eine Abendroutine für die Götter. 30 Minuten Yoga, gefolgt von 30 Minuten Lesen, dann 15 Minuten Meditation, 45 Minuten Sprachenlernen, 30 Minuten Klavierübungen, 30 Minuten Essensvorbereitung, 10 Minuten Hula-Hoop, Abendessen, 8 Stunden Schlaf, wiederholen. Wie gut ich mit der Absurdität der Weltlage klarkam, hing irgendwie ganz davon ab, wie viele Tage hintereinander ich es schaffte, meine Yogamatte zwischen Kleiderschrank und Heizkörper zu quetschen, um den herabschauenden Hund zu vollführen. Als ich eines Tages in unserer Küche/Wohnzimmer/Gästezimmer/Arbeitszimmer (die Freuden des Londoner Wohnens) stand, Hula-Hoop tanzte und dabei unregelmäßige französische Verben konjugierte, begann ich mich zu fragen: Was sagte es über mein ideales Selbst aus, wenn ich ihm nur während eines globalen, sanitären Ausnahmezustands nahekommen konnte?

Hände in die Höh, Törötötööööö

Unabdingbare Utensilien: Keine. Oder warte, eine fleckige Yogamatte?

Nachdem die ersten Zweifel an meinen Idealvorstellungen gesät worden waren, kam eines Morgens während einer Yogastunde (denn wo hätte das sonst sein können) der finale Bruch mit meinen Routinen. Während ich die herabschauende Hundestellung einnahm und mir das Blut in den Kopf schoss, kam mir ein revolutionärer Gedanke. Seid ihr bereit? Was wäre, wenn ich so, wie ich war, schon genug war? Lasst uns einen Moment darüber nachdenken. Was wäre, wenn ich, anstatt immer darum zu kämpfen, eine bessere Version meiner selbst zu werden, bereits angekommen wäre und die Aussicht genießen könnte? Keuchend (ich wünschte, es wäre von der Tiefe meiner Erkenntnis gewesen, aber seien wir ehrlich, es kam davon, dass ich den herabschauenden Hund zu lange gehalten hatte) sah ich mich um und fragte mich, ob irgendjemand die kleine Revolution bemerkt hatte, die auf meiner fragwürdig fleckigen Yogamatte stattfand (der Fleck stammt von einer anderen denkwürdigen Yogastunde, in der ich während meiner Periode auf meine Matte geblutet hatte und dabei seelenruhig geblieben war (ich nenne es meinen Yoga-Flow-Moment).

Wie neu geboren hüpfte ich von meiner Stunde nach Hause. Auf der Stelle beschloss ich, mich dem Dolce Far Niente hinzugeben statt mich weiterhin meinen Trackern auszuliefern. Und das alles an einem beliebigen Samstag Mitte April! Wer hätte das gedacht.

Schockierend: Ich mache tatsächlich gerne Sachen

Ich verstaute meine Tracker und machte mich darauf gefasst, dass mein innerer Schweinehund meine Produktivitäsmaschine platt sitzen würde. Doch als ich meinen dritten Samstagmorgen im Bett verbrachte und Serien schaute, anstatt zu meinem Yoga-Kurs zu gehen, spürte ich eine Regung in mir. War es? Nein, das konnte nicht sein. Ein Drang, der nur durch die Reaktivierung meines verschmähten Vokabeltrainers gestillt werden konnte. Ich wollte tatsächlich lieber die korrekte Schreibweise von „pouvoir“ im Konjunktiv Perfekt bestimmen, als die nächste Folge Emily in Paris zu schauen. La folie! Danach riefen meine Bücher. Und schließlich meine Yogamatte. Es stellte sich heraus, dass die Geschichte, die ich über die Jahre aufgesogen hatte, nämlich dass ich kaum ein Mensch sei, wenn ich mich nicht mit Hilfe von Notizbüchern, Trackern und allen möglichen anderen derzeit erhältlichen Modeartikeln in eine produktive Form brachte, nicht stimmte. Wenn überhaupt, machte ich nun mehr von den Dingen, zu denen ich mich vorher gezwungen hatte, denn befreit von den Gewohnheitstrackern und dem damit verbundenen Gefühl des Abarbeitens, mache ich sie tatsächlich gern!

Von außen betrachtet haben sich meine Tage seit meinem Yoga-Moment nicht wirklich verändert. Ich habe immer noch eine Schwäche für überteuerte Schreibwaren. Was sich geändert hat, ist die Art und Weise, wie ich auf meine Aktivitäten blicke. Heute lerne ich meine französischen Vokabeln, weil ich gerne Zeit damit verbringe, und nicht, weil ich das noch in meinem Tracker abhaken muss.

Mein 2025

Nach Jahren der Trackerfreiheit habe ich die Freude mir Ziele zu setzen, nicht völlig verloren. Aber nachdem ich eine 180-Grad-Wende mit den Trackern hinter mir habe, weiß ich, dass es für mich besser funktioniert, wenn ich meine Absichten behutsam am Rande meiner Wahrnehmung halte, anstatt mich von ihnen durch den Alltag peitschen zu lassen.

Zugegeben, dadurch hat der Jahresbeginn etwas von seinem Zauber verloren. Ich mache bereits das, was ich machen möchte und vermisse daher die Vorfreude, die mit der Verheißung einer jährlichen Neuerfindung einhergeht. Dieses Jahr habe ich mich daher auf drei Dinge festgelegt, die ich nutzen möchte, um die Freude des Wachstums ohne das Diktat der Selbstverbesserung zu genießen:

  • Ich habe mir eine konkrete Sache vorgenommen, die ich in diesem Jahr erledigen möchte: Es hat mit der Rente zu tun. Sexy.
  • Eine Sache, die ich noch mehr lernen möchte: Italienisch.
  • Ein Gefühl, das ich in diesem Jahr besonders leben möchte: Amore. Für mich und andere.

Mehr als eine Woche nach dem schicksalshaften 1. Neujahrstag an einem beliebigen Samstag einen Artikel über Neujahrsvorsätze zu veröffentlichen, mit dem ich nur bedingt zufrieden bin, fühlt sich wie der perfekte Start für dieses Jahr an.