Kann ich als Erwachsene noch die Magie von Weihnachten spüren?

Auf den Spuren von WeihnachtsfilMmomenten in London

Früher habe ich Weihnachten geliebt. Oder vielleicht sollte ich sagen, ich liebte die Idee von Weihnachten, wie sie im Disney-Klassiker „Santa Clause – Eine schöne Bescherung“ von 1994 dargestellt wurde. Wenn ihr diesen denkwürdigen Kinomoment verpasst habt, reicht es zu wissen, dass der Film ein Mix aus Spielzeugwerkstätten am Nordpol, jede Menge Elfen-gemachte heiße Schokolade und Tim Allen mit einer Schneekugel ist, der alle Kinder glücklich machte. Im Alter zwischen 5 und 9 (?!) betrachtete ich den Film im Grunde als dokumentarische Darstellung dessen, was jeden Dezember am Nordpol passiert, und er gab mir jedes Jahr zu Weihnachten ein wohliges Gefühl. Aber irgendwann kam der Tag, an dem ich angesichts der offensichtlichen Fettphobie des Films zusammenzuckte und ich endlich das Wortspiel mit Claus/Clause verstand – der Tim-Allen-Bann war also gebrochen. Seitdem jage ich jedes Jahr zu Weihnachten den Erlebnissen hinterher, die meine Realität so nahe wie möglich an die Magie des Filmes heranbringen. Dieses Jahr war keine Ausnahme.

Übergroße Eisbärenstatuen, Zuckerstangen und ein Zug voller Spielzeug – Was will man mehr.

Erster Halt: Mayfair-Weihnachtsmarkt

Oh, Mayfair. Man muss nur zwei Details über dieses Londoner Viertel wissen, um sich ein Bild zu machen. Hier hat Leonardo DiCaprio die Freundin meiner Freundin aufgerissen, und hier findet man einen Pelzladen, der sich ohne jeglichen ironischen Unterton „Furever“ nennt. Wenn ich irgendwo in London einen lebensgroßen Deko-Eisbären finden könnte, dann hier. Als ich an einem Samstag Ende November an der Green Park Station ankam, wurde ich zusammen mit Hunderten anderer Weihnachtsfanatiker auf die Straße gespühlt, kurz bevor die Station wegen Überfüllung geschlossen wurde. Es liegt immer nur ein fehlerhafter Nahverkehrs-Service zwischen einem glamourösen Stöbern bei Furever und Pavian-ähnlichem Gerangel um ans Ziel zu kommen. Weihnachtszutaten bisher: Gliedmaßen und Wutschnauben.

Als wir endlich zum Weihnachtsmarkt eine Straße weiter vordrangen, schafften wir es kaum bis zu den Ständen. Ich quetschte mein Gesicht zwischen Schultern und Weihnachtsmützen und erhaschte einen kurzen Blick auf Hütten aus Kunstholz, Zuckerstangen und einen Weihnachtsmann mit einem ECHTEN (!?!) Bart. Das alles wurde mit einer aggressiven Menge Kunstschnee berieselt. Da wir unsere Getränke ohne eine Prise Ellenbogen genießen wollten, kauften wir uns heiße Schokolade ohne Alkohol zum Mitnehmen für 9 £ (!!!!!) und setzten uns ins Foyer eines Kinos, um uns in Ruhe zu unterhalten. Meine Jagd nach Weihnachtsstimmung konnte noch einen Tag warten. Kunstschnee-freie Nacht, heilige Nacht.

Zweiter Halt: Das örtliche Gemeindezentrum

Da die wütenden Gesichter gestresster Weihnachtseinkäufer meine Nächte noch immer verfolgten, schwor ich mir, es am folgenden Wochenende besser zu machen und den Weihnachtsmarkt in unserem örtlichen Gemeindezentrum weit weg von der Londoner Innenstadt zu besuchen. Als ich die Turnhalle mit dem beigefarbenen Linoleumboden betrat, entdeckte ich das erste Gesetz der Londoner Weihnachtszeit: Die Dichte der Menschenmenge ist proportional zur Fülle der Weihnachtsdekorationen. Da nichts weiter als ein paar Lamettafransen zu sehen waren, konnten wir relativ frei zwischen den Ständen umhergehen. Nach 5 Minuten hatten wir alles gesehen und kauften einen Becher mit dem örtlichen Glockenturm, um nicht mit leeren Händen nach Hause zu gehen. Sinnloser Konsum ist doch sicher ein weiterer wichtiger Weihnachtsbestandteil?

Dritter Halt: Selfridges

Das Schicksal wollte es, dass wir uns zu der Jahreszeit auf unseren Umzug in ein anderes Land vorbereiteten, in der es für die Stimmung am wichtigsten ist, die eigenen vier Wände mit allerlei notwendigem Krimskrams zu überladen. Da wir umzugsbedingt unter starkem Deko-Entzug litten, beschlossen wir an einem Dienstagabend, zu Selfridges zu gehen. Wenn es eine Kunst wäre, den Leuten unnötigen und überteuerten Mist zu verkaufen, dann wäre Selfridges der Meister. Dieses Jahr waren die Schaufenster von Wicked inspiriert. Als wir das Gebäude betraten, schwebten uns coole, instrumentale Versionen von Weihnachtsklassikern entgegen. Während ich mich sehr darauf konzentrierte, wie eine reiche Person auszusehen und nicht wie jemand, der in seinem 28-Euro-Mantel aus dem Secondhandladen das Leben der Anderen tourt, hätte ich beinahe die griechisch anmutenden Statuen mit den saftigen Pobacken und Weihnachtsmannmützen und die Skateboard-Rampe verpasst, auf der echt-aussehende Jugendliche Tricks machten. Als wir es endlich in die Spielzeugabteilung im fünften Stock schafften, stellten wir fest, dass die Musik, die wir zuvor gehört hatten, von einer echten DJane gespielt wurde, die die beste Zeit ihres Lebens hatte. Muss Weihnachten cool sein?

Vierter Halt: Die National Gallerie

Eine Woche vor Weihnachten machte ich mich auf den Weg zur National Gallery, um ein letztes Mal zu versuchen Weihnachtsstimmung aufkommen zu lassen. Während ich mich für den Einlass anstellte, blickte ich den Trafalgar Square mit seinem von Norwegen gespendeten Weihnachtsbaum hinunter in Richtung Big Ben. Die dröhnenden Töne von White Christmas, die von den Marktständen heraufschallten, vermischten sich mit dem Geräusch ungeduldiger Touristen, die die Sicherheitsleute passiv-aggressiv fragten, ob dies tatsächlich die Schlange für Leute MIT Ticket sei. Billige Dekorationen, abgedroschene Musik und allgemeine Panik, nicht schnell genug voranzukommen – ist das also das neue Weihnachtsgefühl?

Drinnen suchte ich in den immer wieder gemalten Weihnachtskrippenszenen nach den Ursprüngen der Weihnachtszeit. Aber während ich die Blau- und Rottöne anstarrte, konnte ich nur daran denken, dass Weihnachten früher die großartigsten Formen künstlerischen Ausdrucks inspirierte, während heute die höchste Kunst, die man zu dieser Jahreszeit finden kann, Mozzarella- und Tomatenscheiben Kreationen in Form einer Zuckerstange sind. Danke Pinerest. In diesem Moment, beschloss ich meine Suche nach dem Weihnachtsgefühl aufzugeben bevor ich zum Grinch des 21. Jahrhunderts mutierte.

Am Tag, bevor ich London verließ, um die Feiertage mit meiner Familie in Deutschland zu verbringen, traf ich mich mit einer Freundin aus London, die nach Australien gezogen war und ebenfalls ihre Familie besuchte. Wir hatten uns seit zwei Jahren nicht gesehen. Als wir vor einem beliebigen Café saßen und Filterkaffee tranken, wurden die Jahreszeiten irrelevant. In diesem Moment, ohne Weihnachtsgewürze, Kunstschnee und Wham-Beats, dämmerte es mir. Heimkommen. Das war die Essenz meines erwachsenen Weihnachtsgefühls. Denn bei all der Hektik dieser Tage hätte ich das größte Geschenk der Feiertage fast übersehen: der 24. und 25. Dezember sind eine der wenigen Konstanten heutzutage, die es uns ermöglicht, uns mit Menschen zu treffen, die wir lange nicht gesehen haben, ohne vorher 335 WhatsApp-Nachrichten und eine Doodle-Umfrage auszutauschen, weil man wahrscheinlich weiß, wo jeder zu dieser Jahreszeit sein wird. Frohe Weihnachten.


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