Eine Ode an meinen Acrylpullunder

Wie weit ich gehe, um ein hässliches Top zu verteidigen

Ich liebe es, wie mich der Pullunder am 20. März 2024 um 17:48 Uhr im Merchandise-Shop der ABBA Voyage-Show in East London zu sich ruft. Ein Acrylfasermix drapiert über eine Holzbüste. Neongelbe, schwarz umrandete Buchstaben auf klatschmohnroten und lachsfarbenen Karos. A-B-B-A. XXL. Die einzige noch verfügbare Größe. Wie für mich gemacht.

Ich liebe es, wie mir die viereckige Form des Pullunders zuflüstert, dass ich nie wieder diese Kälte im unteren Rücken spüren würde, an Tagen, die sich nach nackten Armen, aber warmen Nieren anfühlen (d. h. jeden zweiten Dienstag in Großbritannien). Er bietet alle Vorteile der klassichen Steppweste, ohne Fragen zu meiner Einstellung zur Jagd aufzuwerfen.

Ich liebe es, dass der Pullunder teuer genug war, um mich glauben zu lassen, dass ein Teil meines Geldes tatsächlich in eine faire Bezahlung von Textilarbeitern fließen würde. Der Unterschied zwischen dem Materialwert des Produkts und seinem Preis ist nicht so groß, dass ernste Zweifel an der Integrität seiner Vertriebshändler aufkämen.

Ich liebe es, wie sich der Pullunder von den blaugrauen Sitzbezügen meines Pendlerzugs abhebt. Und von der blaugrauen Jacke des Mannes vor mir. Und vom blaugrauen Hemd des Mannes neben ihm und des neben ihm und des neben jenem. Ein fesselndes Merkmal, während wir alle in die gleiche Richtung rasen.

Ich liebe meinen Pullunder, weil ich nicht einmal so ein großer ABBA-Fan bin. Weil ich den Pullunder trotz des Logos anziehe. Und weil mich das zu einem unglaublich vielschichtigen Menschen macht.

Ich liebe es, wie der Pullunder als Interpretation des Konzepts von Kitsch gelesen werden kann.

Ein Beispiel für Kitsch aus Umberto Ecos Buch On Ugliness

Kitsch ist ein Werk, das, um seine Funktion als Effektstimulator zu rechtfertigen, den äußeren Anschein anderer Erfahrungen zur Schau stellt (Umberto Eco in On Ugliness, S.405).

Ich liebe es, wie mein Pullunder der impliziten Kritik im obigen Zitat entgegentritt, dass Kitsch bloße Nachahmung sei, als wäre das etwas Schlechtes. Ich liebe die Tatsache, dass ich etwas tragen kann, mit dem ich Spuren der zweistündigen ABBA-Hologrammshow in meinen tristen Büroalltag bringen kann (den ich ertrage, um mir die Hologrammshow leisten zu können #CircleOfLife). Und ja ich trage den Pullunder gnadenlos im Büro.

Wer Kitsch mag, glaubt, dass er ein qualitativ hochwertiges Erlebnis genießt (Eco, S.398).

Ich liebe es, wie der Pullunder Ecos überraschend herablassende Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Kitschliebhaber zu sein, in Frage stellt. Ich glaube nicht nur, dass ich ein qualitativ hochwertiges Erlebnis habe, wenn ich den Pullunder trage. Ich habe ein qualitativ hohes Erlebnis. Ich fühle mich großartig in meinem Pullunder.

Ich liebe es, wie mir der Pullunder zum ersten Mal den Unterschied zwischen Kitsch und Camp verdeutlicht und wie der Pollunder wahrscheinlich eher ein Beispiel für Letzteres ist.

Camp wird nicht an der Schönheit einer Sache gemessen, sondern am Ausmaß ihrer Künstlichkeit und Stilisierung … Um Camp zu sein, müssen Objekte eine gewisse Übertreibung oder einen marginalen Aspekt aufweisen … sowie ein gewisses Maß an Vulgarität, selbst wenn ein Anspruch auf Verfeinerung besteht … Camp ist auch, aber nicht immer, die Erfahrung von Kitsch durch jemanden, der weiß, dass das, was er sieht, Kitsch ist (Eco, S.409f.)

Beispiel für Camp as Umberto Ecos On Ugliness

Ich liebe meinen Pullunder, aber hinter all meiner Verehrung lauert der Verdacht, dass ich das nur kann, weil ich ansonsten der Mainstream-Ästhetik entspreche. Seine Grellheit unterstreicht meine Konformität.

[Camp] ist eine Manifestation von aristokratischem Geschmack und Snobismus: „Und wie der Dandy im 19. Jahrhundert in Sachen Kultur die Gegenreaktion zu den Aristokraten ist, so ist Camp der moderne Dandyismus. Camp ist die Antwort auf die Frage: Wie wird man im Zeitalter der Massenkultur ein Dandy?“ Aber während der Dandy nach seltenen Sensationen suchte, die noch nicht durch die Massen entweiht waren, sucht der Kenner des Camp „die gewöhnlichsten Freuden in der Kunst der Massen“. Der Dandy hielt sich ein parfümiertes Taschentuch vor die Nase und war anfällig für Ohnmachtsanfälle; der Kenner von Camp riecht den Gestank und ist stolz auf seine starken Nerven“ (Eco, S.411).

Hipster-Negative treffen auf elitäres Posieren. Liebe ich nicht meinen Pullunder, sondern seinen gemeinen Acrylfasergeruch?

Allerdings liebe ich meinen Pullunder ohne Ironie. Die einziege Art, Camp zu lieben, ohne ein Snob zu sein.

[Hässlichkeit] ist nur dann [Camp], wenn der Exzess unschuldig und nicht kalkuliert ist. Reine Beispiele von Camp sind nicht beabsichtigt, sondern äußerst ernst (Susan Sontag in Eco, S.418f.).

(Ich denke dieser Aufsatz ist Beweis genug für meine Ernsthaftigkeit wenn es um meinen Pullunder geht)

Ich liebe es, wie der Pullunder mein Verlangen nach etwas anderem als algorithmisch entworfenen, Instagramvisionen von Nicht-Konformität manifestiert. Und wie das irgendwie daran erinnert, was Sontag vor 60 Jahren schrieb:

Camp kehrt der Gut-Schlecht-Achse des gewöhnlichen ästhetischen Urteils den Rücken. Camp kehrt die Dinge nicht um. Es wird nicht argumentiert, dass das Gute schlecht oder das Schlechte gut ist. Es bietet vielmehr einen anderen – ergänzenden – Maßstab für die Kunst (und das Leben) (Sontag in Eco, p. 417).

Mein Pullunder: Camp aus Acrylfaser.