Von Essenstrends und London im August
Raus auf den Bürgersteig. Die Morgenkühle legt sich auf meine Haut. Möwen gackern. Eichhörnchen klettern Bäume hinauf. Tauben picken an etwas herum, das aussieht wie mitternächtliches Erbrochenes. Disney London-style. Der Bus ist nur ein paar Minuten entfernt. Dann in die U-Bahn. Eine ruhige Fahrt. Die einzige Person, die um diese Tageszeit auch hier ist, ist der Typ, der doppelt so alt ist wie ich und mich nach dem Buch fragt, das ich lese. Dann danach, wo ich wohne. Dann danach, wo er das Buch bekommen kann. Ich steige aus der U-Bahn und frage mich immer noch, ob er gehofft hat, dass die Antwort „Zwischen meinen Schenkeln“ lautet. Oder vielleicht war er nur einer dieser christlichen Missionare, die vom Buchtitel „Tod eines niederen Gottes“ fasziniert waren. (Manchmal bin ich erstaunt über die verquere Logik, die sich mein Gehirn ausdenkt, um das Leben als Frau erträglich zu machen.) Aber an diesem Morgen kann ich keinen Gedanken an schmierige Typen verschwenden. Ich bin auf der Jagd nach Krümeln. Ich steige bei Leicester Square aus. Ein paar Schritte, ein paar Worte und ich sitze etwas gegenüber, das ich nur als Kunstwerk beschreiben kann.
Flockiger Blätterteig. Verführerische Wirbel aus cremigem Pistazien-Variegato (es spielt keine Rolle, dass nicht ganz klar ist, was das ist). Eine pudrige Schicht gemahlener Pistazienkerne. Knackige gefriergetrockneter Himbeerkristalle. Eine Prise Puderzucker. Monatelang habe ich mir diesen Moment vorgestellt. Nachdem ich Millionen Fotos und Clips online gesehen habe, wie kann die filterfreie Realität jemals meinen Erwartungen gerecht werden? jetzt, wo ich das Gebäck meiner Träume endlich vor mir habe, ist es klebriger als gedacht und irgendwie riecht es komisch. Londoner Sommer auf einem Serviertablett. Ein Reinigungswagen spült den Schmutz von gestern in die Rinnsteine und reißt mich aus meinen Gedanken. Plötzlich sehe ich mich selbst. Wie ich hier sitze in diesem rosafarbenen Café. Emily in Paris aber mit Mülltüten auf dem Gehsteig. Um 8.30 Uhr. An einem Sonntag. Im August.
Wie zur Hölle bin ich hier gelandet?
Wie bei so vielen anderen Dingen ist London auch in Sachen Food-Trends eine andere Welt. Und in diesem Sommer verkörpert keine verdauliche Substanz die Essenstrendmanie besser als die einst unscheinbare Pistazie, im Grunde ein rotzfarbener Klecks. Als überzeugte Verweigererin von Social-Media-Hypes hat sich die Pistazie aus dem Abseits in mein Bewusstsein geschlichen. Jahrelang hatte ich einen Tunnelblick; das höchste der Gefühle war die gelegentliche Tüte Pekannüsse, wenn ich Lust auf etwas Ausgefallenes hatte, während ich meine übliche Portion Mandeln und Walnüsse bei Lidl kaufte (das Preis-Leistungs-Verhältnis bis heute ungeschlagen).
Während der Pandemie habe ich meine Nussgewohnheiten erweitert und mir eindreimal die Woche ein Mandel-Croissant in meiner örtlichen Bäckerei gegönnt. Hier wurde ich zum ersten Mal auf die Pistaziencreme aufmerkasm, die verführerisch auf Teigschnecken und Cannoli glänzte. Die zum Verkauf stehenden No-Name-Pistaziencremeglaser ein Beweis für die hausgemachte Herstellung des Produkts und eine Erklärung für die wiederholten Versuche des Personals, mich in den Pistazienbann zu ziehen. Mein Schlüsselmoment kam in Form des Pistazien-Croissants. Ein Bissen dieser flockig-cremigen Köstlichkeit und ich war bekehrt.
Ein Teil der Pistazienanziehung bestand darin, Mitglied dieses geheimen Clubs (sprich: Kults) von Pistaziencreme-Anhängern zu sein. Aber wie bei jeder guten Sache in London kommt ein Moment, in dem der Großstadt-Geist davon Wind bekommt und sagt: „Na, gefällt dir deine Pistaziencreme? Wie gefällt sie dir dann …. AUF KOKS?!‘ (was man mittlwerweile bestimmt auch mit Pistazienpulver angereichert bekommt).
Hier ist ein Auszug der neusten Pistazientrends, die man heute in London finden kann:
Knafeh & Pistazienschokoriegel, Pistazien-Fistek-Tarte, Pistazienkirsch-Tarte, Pistazienwürfel-Croissant, Pistazienschokoladenwirbel, Pistazienbrötchen, Pistazien-Eis-Bombe, Pistazien-Croissant-Kegel, Pistazieneiskaffee, Pistazien-Eclair, Pistazien-Schokoladen-Pain Suisse, Pistazien and Yuzu Paris Brest, Pistazienpfannkuchen, Pistazien-Himbeer-Schnecken. Wie sind wir nur von Nüssen bei Schnecken gelandet?!
Die Befriedigung, die man durch den tatsächlichen Verzehr des Pistazienprodukts erlangen kann, sinkt natürlich mit jedem Meter und jeder Minute, die man in der Warteschlange verbringt, um die neueste Kreation in die Hände zu bekommen. Und der Prozentsatz der tatsächlich verwendeten Pistazien wird wahrscheinlich auch geringer, je eifriger über das Produkt gepostet wird.
Und dennoch konnte ich das Pistazien-Himbeer-Gebäck bei Donutelier nicht vergessen, auf das ich letzten Juni an einem späten Freitagabend zufällig gestoßen bin. Zu meinem Leidwesen ist die Bäckerei einer dieser Orte, an dem man einen Jeans-Anglerhut mit dem Logo des Cafes kaufen kann, aber seinen Kaffe nur im Pappbecher serviert bekommt. Es vereint also alle Merkmale der Food-Hype-Orte, die ich normalerweise verabscheue:
- Ein Name mit einem französischen Touch und die nervige Versessenheit, Zutaten auf Französisch zu bennenen, wenn es ein komplet akzeptables englisches Wort dafür gibt (Chantilly – whipped cream)
- Eine äußerst fotogene Innenausstattung
- Die Kombination mehrerer Trendzutaten in einer Kreation (Pistazien mit Yuzu, Pistazien mit gefriergetrockneten Himbeeren usw.)
- Ein Augenmerk auf hausgemachte Produktion
- Ein Preis, den niemals jemand zahlen würde, wenn man nicht von all dem oben Genannten geblendet wäre
- Wahnsinnige Warteschlangen
- Und nicht zuletzt eine suggerierte Knappheit, d. h. Momente, in denen einige Kreationen einfach „nicht verfügbar“ sind
Aber was ist mein Problem, fragen ihr euch vielleicht, wenn es nunmal gut schmeckt? Reiner Social-Media-Hype-Snobismus meinerseits? Kategorische Weigerung, für nicht lebensnotwendige Lebensmittel anzustehen? Es ist nicht nur mein Stolz, der mich davon abhält, meinen Gebäckfantasien nachzugeben. Aber es ist August, liebe Leute, und die Bäckerei befindet sich in Soho. Wenn ihr zu dieser Jahreszeit noch nie hier wart, lasst es mich näher erläutern. An jedem normalen Tag ist Soho wie ein Ameisenhaufen, den man in einen Schuhkarton gestopft hat. Alle Ameisen sind high von Auto- und Fastfood-Abgasen und drängeln wie blöde um die letzten ermäßigten Karten für das Harry-Potter-Theaterstück zu ergattern, während sie von wütenden Taxifahrern verfolgt werden. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie es im August ist, stellt euch vor diese Schuhkarton steht in Flammen und wimmelt mit der doppelten Anzahl an Ameisen. Ihr bekommt annähernd eine Vorstellung davon, wie es ist, wenn man versucht, die Charing Cross Road in einer geraden Linie entlangzugehen.
Ich vermute, es ist die Idee der Knappheit, die mich letztlich zur Tat hat schreiten lassen. Nichts reduziert einen Menschen so sehr auf sein Ellbogenschiebendes, sich in der Schlange vordrängelndes, nur noch ans Kauen denkende Selbst wie ein bisschen Jetzt-oder-nie-Je-ne-sais-quoi. Und so befinde ich mich nun an einem Sonntag um 8 Uhr in Soho. Meine schlaue List, um den Menschenmassen auf der letzten Strecke zu meiner Pistazienoffernbahrung zumindest ein wenig zu entgehen.
Als ich das Gebäck anhebe, ist es überraschend leicht. Der erste Hinweis auf den Mangel an buchstäblicher Substanz hinter dem Hype. Dann, der lang ersehnte Bissen. Das Mundgefühl ist … befriedigend. Der Teig hat eine angenehme Textur. Er bietet genug Widerstand für ein befriedigenden knackigen Biss, aber nicht so viel, dass es zäh wäre. Ich warte darauf, wie sich die Pistaziennoten auf der Zunge entfalten.
Und ich warte. Und ich warte. Und ich warte. So schmeckt es, wenn man sein Urteilsvermögen ignoriert. Die zierliche (mickrige wäre das passende Wort) Pistaziencremespirale auf dem Teilchen ist die einzige Pistaziennote weit und breit. Während meine Geschmacksknospen verzweifelt nach dem suchen, was ihnen versprochen wurde, wird die Bedeutung des zuvor erwähnten „Variegato“ klar: „In diesem Teig finden Sie verschiedene Zutaten – einige davon könnten Pistazie sein.“
Also, ich bin nicht bereit zu sterben, nachdem ich das gegessen habe. Aber wenigstens kann ich in Frieden nach Hause zurückfahren und noch eine Runde schlafen. Denn ich wohne schließlich hier und muss keine Panik haben irgendetwas zu verpassen. Mikrodosierung des Wahnsinns, eine Pistazie nach der anderen.