Ein Jahr zwischen Miniurlaub und Frührenten-Scham

Gedanken zu meinem 4-Tage-Wochen-Experiment

Ich, vor den Großmeistern in der National Gallery – ganz allein.

Ich, beim Joggen entlang der South Bank – keine Menschenseele weit und breit.

Ich und das neueste Trendgebäck in einem ruhigen Café.

Als ich vor einem Jahr meine Arbeitsstunden auf eine 4-Tage-Woche reduzierte, träumte ich vom Alleinsein. Eine Work-Life-Balance Version von Burke’s Sublime.

Nach einem Jahr ist diese Fiktion in die Realität gekracht und liegt in Scherben auf dem Boden. Denn trotz meiner 80%-Arbeitswoche bin ich nicht halb so besonders, wie ich dachte. Egal wohin ich mich an einem durchschnittlichen Freitagmorgen wende, ich bin immer nur eine von vielen in einer Schar interessanter Charaktere.

November

  • Touristen, die Vollzeit arbeiten, damit sie hierher kommen können.
  • Menschen in beigefarbenenen Wollmänteln, die von Beruf erben und sich gegenseitig mit einem bedeutungsvollen Nicken fragen: „Hast du den Francis Bacon gesehen?“

Der erste Monat der 4-Tage-Woche ist eine wilde Abfolge von Kunstausstellungen und Touristen-Hotspots. Ich habe 20% meines Gehalts geopfert, also muss ich diese acht arbeitsfreien Stunden voll ausnutzen. Mit dem Kulturpass in der Hand stempele ich mit fordianischem Eifer in Londons Kulturstätten ein und aus. Jeder Freitag, ein Mini-Urlaub.

David Hockneys „Pool mit zwei Figuren“ in der Tate Modern ist wahrscheinlich die einzige Art, auf die ich einer Poolszene, wie die auf dem Bild abgebildet ist, mit meinem 4-Tage Gehalt nahe kommen kann. Ich glaube mir geht es gut damit.

Dezember

  • Ein Prinz, der eine US-Journalistin heiratet.
  • Eine venezianische Single auf Männerjagd.

Müde von einem Monat voller „lohnenswerter“-Freitage kollabiere ich vor Netflix und mache eine Reihe sehr teurer Mittagsschläfchen. Leggings, Decke, Laptop = Couch-Panini.

Januar

  • Candice.

Neues Jahr, neue Freitagsroutine. Ich melde mich für einen Sprachkurs am Italianischen Institut in Belgravia an, um morgens aus dem Haus zu kommen. Ich treffe Mütter, die so mit dem Butterbrotschmieren für ihre Teenager beschäftigt sind, dass sie es nicht schaffen, die Hausaufgaben zu machen, für die sie bezahlen und dumme Fragen stellen. Dies verschlimmert meine ohnehin schon ausgeprägten Strebertendenzen.

Februar

  • ABBA-Hologramm-Figuren aus der ABBA-Show „Voyage“

Ich fange an, den Italienischunterricht zu schwänzen, um Städtereisen zu machen. Das Geld, das ich freitags ausgebe, übersteigt allmählich das Geld, das ich nicht verdiene.

März

  • Pitbulls, die Eichhörnchen jagen.
  • Ratten, die durchs Unterholz rascheln.
  • Mitglieder der Kinderwagenmafia, die sich um ihre weinenden Babys kümmern und trotzdem weniger müde aussehen, als ich mich fühle.

Ich mache einen Morgenspaziergang durch das kostenlose (!) nahegelegene Queen’s Wäldchen zu einem kleinen Hüttencafé. Ich möchte meine Zeitung lesen, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Während ich die schlammigen Wege entlangstapfe, schaffe ich es, mich gleichzeitig wie ein Vorschulkind und ein alter weißer Mann zu fühlen. Als ich mich schließlich in meinem Stuhl niederlasse, kann ich meine Augen kaum auf das Kleingedruckte konzentrieren. Wo ist all die grenzenlose Energie, die mir ein zusätzlicher freier Tag beschehren sollte? Vielleicht wird sie sofort von der Gedanken-Gymnastik verbraucht, die ich jetzt machen muss, um vor mir selbst zu rechtfertigen, warum ich das Recht habe, hier zu sein, während alle anderen einen besseren Grund zu haben scheinen, nicht zu arbeiten.

April

  • Meine Französisch-Online-Tutorin.
  • Meine Italienisch-Online-Tutorin.

Nachdem ich genug von Candice und dem 45-minütigen Pendeln nach Belgravia habe, wechsle ich zu Einzelunterricht online (denn wer kann schon privaten offline Unterricht bezahlen?!). Viktorianische Frau 2.0. Nach ein paar Wochen kann ich auf Französisch und Italienisch sagen: „Die Ironie, dass ich durch die Reduzierung meiner Arbeitszeit, um Zeit für Sprachkurse zu haben, nicht genug Geld habe, um tatsächlich in die Länder zu reisen, in denen die Sprachen gesprochen werden, ist mir nicht entgangen.“

Mai

  • Café-Arbeitsbienen.
  • Macbooks.
  • Teure Hunde (z.B. die Rasse Shiba Inu).

Ich beginne Donnerstagabend einen Schreibkurs zu besuchen. Dadurch bleiben meine Freitage frei, aber ich habe genug Schwung, um am nächsten Tag früh aufzustehen. Ich fange an, Cafés und Bibliotheken in ganz London zu besuchen, um meinen Blog zu schreiben. Umgeben von dem hektischen Tippen von Adriennes, die ihre Deadline für die Veröffentlichung ihrer neuen Yogahosen / Schmuck-Kollektion einhalten wollen, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, ob ich mein neues Hobby nicht auch monetarisieren sollte.

Juni

  • Gestresste Kollegen, deren Teamstruktur und Projektfristen es ihnen nicht erlauben, ihre Arbeitszeit auf eine 4-Tage-Woche zu reduzieren.

Ich erwähne meine eigene Arbeitsvereinbarung nicht.

Juli

  • Kollegen, die komprimierte Stunden arbeiten.

Indem sie an neun aufeinanderfolgenden Arbeitstagen eine Stunde länger arbeiten, können einige meiner Kollegen jeden zweiten Freitag freinehmen und erhalten trotzdem ihren vollen Lohn. Kann man auf mehrenen Hochzeiten gleichzeitig tanzen? So oder so, ich habe endlich die perfekten Komplizinnen gefunden, um die neuesten Tanzkurse der Stadt auszuprobieren.

August

  • Menschen, die jeden Tag der Woche im Dienstleistungsgewerbe arbeiten.

Ich beginne meine freitags Abenteuer immer früher morgens, um den Touristenmassen zu entkommen. Das macht Spaß, bis ich dem Blick der Person begegne, die mir um 8 Uhr morgens Kaffee serviert. Man kann so viel man will über die Notwendigkeit einer systemischen Veränderung unserer Arbeitsaufteilung schreiben, aber letztlich beginnt die Tragödie der Ungleichheit zwischen denen, die arbeiten müssen, und denen, die sich entscheiden können, weniger zu arbeiten, mit dem Ignorieren dieses einen anklagenden Blickes.

September

  • Strenge Männer mit speerlichem Haar erzählen mir in den Nachrichten, dass Rom nicht in einer 4-Tage-Woche erbaut wurde.

Unser neuer Labour-Premierminister hat Geschenke im Wert von über 100.000 Pfund angenommen. Anti-Work-Life-Balance-Gerede nimmt zu, angeheizt durch den wirtschaftlichen Abschwung. Wie kommt es, dass ich nicht anders kann, als zu denken: „Tue ich meinen Teil?“

Oktober

  • Niemand.

Wegen eines Projekttermins arbeite ich im Oktober jeden Freitag. Auf die Probe gestellt, ist es mir nicht so wichtig, meinen verdammten Teil zu tun!

November

  • Ein pensionierter Witwer.
  • Das Gespenst all des Geldes, das ich dieses Jahr nicht verdient habe.

An meinem ersten freien Freitag seit einigen Wochen kehre ich zu meiner Schreibroutine im Café zurück. Wenn ich mir die Menschen um mich herum anschaue, frage ich mich, ob mein älteres Ich meine Entscheidung bereuen wird. Was, wenn ich durch meine Quasi-Vorruhestandsregelung nie genug Geld haben werde, um tatsächlich in Rente zu gehen? Und wenn das derzeitige Rentensystem darauf angewiesen ist, dass die jungen arbeitenden Generationen für die heutigen Rentner aufkommen, wer bezahlt dann den Kaffee des Rentners dort drüben, während ich hier chille? Welche kombinierten Auswirkungen hat es auf meine Herzgesundheit, wenn ich einerseits weniger Arbeitsstress habe, andererseits aber infolge häufigerer Cafébesuche mehr fettiges Gebäck esse? Wenn ich wegen der Arbeit genug gestresst wäre, hätte ich wenigstens nicht so verdammt viel Zeit, über meinen Beitrag zur Gesellschaft und meine Herz-Kreislauf-Gesundheit nachzudenken.

Doch dann denke ich an das Jahr zurück und stelle fest, dass ich im Großen und Ganzen eine ziemlich gute Technik zum Abstellen dieser Gedanken gefunden.

Vielleicht kann ich nach diesen komprimierten Stunden fragen. Und nach einer Herz-Gefäß-Vorsorgeuntersuchung.

Nächstes Jahr.


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