Eilmeldung aus dem Zug

Von hartgekochten Eiern und Glocken-klingenden Klogängen

Es gibt nur wenige Dinge im Leben eines durchschnittlichen Büroangestellten, die so viel Potenzial für Diskrepanzen zwischen Erwartung und Realität bieten wie der jährliche Sommerurlaub. Und wie könnte es anders sein, wenn zwei Wochen in der Sonne für all die vermeintlichen Schwimmbadgänge, Massagesitzungen und Eisdielenbesuche aufkommen sollen, für die wir uns in den 50 anderen Wochen des Jahres in unserem 9-bis-5-Uhr-Dasein keine Zeit genommen haben.

Um Enttäuschungen bei meinen Urlaubsplänen in diesem Jahr zu vermeiden, habe ich mir eine geniale Strategie ausgedacht. Für meine lang ersehnte Zugreise nach Deutschland habe ich meine Erwartungen extrem niedrig angesetzt und mir eine äußerst beschwerliche Reise vorgestellt. Und ich hatte eine großartige Verbündete – die Deutsche Bahn, auch bekannt als DER Garant für Enttäuschung und jeglicher Art emotionaler Entgleisung. Letztes Jahr hatten 64 % der Züge in Deutschland Verspätung, wobei Züge, die unter 6 Minuten nach der planmäßigen Ankunftszeit ankamen, von dieser Zählung ausgenommen waren. Wenn man Glück hat und irgendwann in seinen Zug steigen kann, quellen die Mülleimer meistens über, die Klimaanlage ist größtenteils kaputt und das WLAN an Bord ist eher ein nettes theoretisches Konzept als eine Tatsache. Ganz zu schweigen von den Mitreisenden. Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht ist es die schlechte Belüftung, die zu Sauerstoffmangel im Gehirn führt. Die Tatsache, dass man mit hundert anderen Menschen mit 300 km/h in einer Metallbüchse durch die Gegend saust, löst in manchen Menschen den unwiederstehlichen Drang aus stark riechende Lebensmittel zu konsumieren: gekochte Eier, Thunfischsandwiches oder der Favorit: ein Happy Meal von McDonald’s. Mittlerweile fühlt sich jede Reise, bei der ich nicht durch den Mund in meinen Schal atmen oder auf halber Strecke einen ungeplanten Hotelaufenthalt buchen muss, weil ich aufgrund von Verspätungen unweigerlich mitten im Nirgendwo strande, wie ein Erfolg an.

Diese tatsächliche Erfahrung, gepaart mit meinem leichten Hang zu Übertreibung, führte dazu, dass ich mich kurz vor meiner Reise fühlte, als würde ich einen Überlebenstrip in den kambodschanischen Dschungel unternehmen oder einen Bericht aus einer Militärzone abgeben, anstatt mich den Gefahren des öffentlichen Nahverkehrs in Nordrhein-Westfalen zu stellen.

Am Morgen meiner Reise war alles auf Kurs für eine schreckliche Fahrt. Einige Anti-Olympia-Aktivisten hatten über Nacht die Gleise des Hochgeschwindigkeitszugs zwischen Paris und Lille in Brand gesteckt. Dies löste eine Kettenreaktion aus, die zu einer Verspätung meines London-Brüssel-Zugs führte und meine Umsteigezeit in Brüssel Midi auf nervenaufreibende 12 Minuten verkürzte. Als wir durch den Eurotunnel sausten, stellte ich mir schon vor, wie ich mit meinem Koffer voller Cadbury-Schokolade und Garibaldi-Kekse einen Tom Cruise-artigen Sprint über 10 Bahnsteige hinlegen würde. Der Zugbegleiter spielte seine Rolle und sah mich ausreichend schockiert an, als ich nach dem Anschlusszug fragte, den ich erreichen wollte.

Doch dann, wie durch einen Zeit-Raum-Zug-Sprung, änderte sich das Drehbuch meiner Reise. Denn was ich in den Augen des französischsprachigen Zugbegleiters sehen konnte, war außer Mitleid … nichts. Keine Ungeduld darüber, wie ich seine Sprache verstümmelte, entschlossen jede Gelegenheit zu nutzen, um mein Französisch zu üben. Keine Überraschung und keine übereifrigen Beteuerungen darüber, wie gut ich sprach. Einfach nur schlichte und einfache Akzeptanz der Tatsache, dass ich Französisch mit ihm sprach. Für diejenigen von uns, die die Qualen des Sprachenlernens kennen, ist die sachliche Nichtreaktion eines Muttersprachlers auf unseren Versuch in seiner Sprache zu sprechen der heilige Gral. Der Zugbegleiter schlug mir noch vor, weiter nach vorne in den Zug zu gehen, um näher am Ausgang zu sein für meinen Umstieg und verabschiedete sich mit einem „Bon Courage“.

Angetrieben von diesem sprachlichen Hoch rannte ich nicht durch den Bahnhof, ich schwebte (je flottais). Auf einer Wolke aus nasalen E-s und zirkumflexiven Ô-s.

Trotz unserer Verspätung erreichte ich meinen Anschlusszug und hatte 4 Minuten Zeit, um mich auf meinem neuen Platz einzurichten. Sofort fiel mir auf, wie die Klimaanlage genau das richtige Maß an Kühle (la fraîcheur) erzeugte, anstatt der üblichen Temperaturen, die entweder einen Hitzschlag oder eine Lungenentzündung verursachten (ich meine dich, Great Northern Railway!). Ich holte meinen Laptop heraus und begann an diesem Text zu arbeiten, wie die unerschrockene (intrépide) Schriftstellerin, die ich immer sein wollte, und die Zeilen tuckerten auf meine Seite, während der Zug durch eine malerischen Landschaft aus üppigem Grün und nickenden Weizenfeldern fuhr. (Naturellement).

Alle meine Mitreisenden waren Engel (des anges), die geruchsneutrale Erdnussbuttersandwiches mampften. Ein älteres schwules Paar las sich leise auf Französisch Simone de Beauvoir vor, während Édith Piaf aus den Kopfhörern meines Beifahrers drang. Auf den Bildschirmen des Zuges waren Fotos zu sehen, auf denen das Personal kostenlose Eiscreme (des glaces) an Kinder verteilte, und zur Abwechslung glaubte man ihnen tatsächlich. Mann könnte es sich nicht besser ausdenken. Als wir in den Lütticher Bahnhof einfuhren, war ich so verzaubert, dass sogar der nahegelegene Sexshop mit seinen schäbigen „Cabines DVDs“ irgendwie urig aussah.

Mein Trip gipfelte in einen Besuch der saubersten Toilette aller Zeiten im Kölner Bahnhof. Während ich mich hinhockte, spielte das Toilettenradio ein fröhliches deutsches Lied mit dem Text „Wer friert uns diesen Moment ein, besser kann es nicht sein“, während die Glocken des Kölner Doms die Erleichterung zwei Tassen Kaffee loszuwerden musikalisch untermalten.

Was ist also die Moral dieser Geschichte? Erwarten Sie das Schlimmste von Ihrer Reise für die Chance, positiv überrascht zu werden? All die Duolingolektionen zahlen sich irgendwann aus? Ich bin mir nicht sicher. Aber vielleicht muss ich für diese Sommerferienausgabe von So What Now ausnahmsweise mal nicht zu einem produktiven Fazit kommen.

Bon voyage.