Cookie Monster

Autopsie einer Obsession

Ich weiß noch, wie es begann.

Eine beiläufige Bemerkung einer Schulfreundin.

Eine cremige Flüssigkeit, die mir entgegen floss.

Und dieses unvergessliche Gefühl in einen frisch gebackenen Keks zu beißen, der genau die richtige krümelig-saftige Konsistenz hatte.

Ich hatte schon früher Keks-Offenbarungen gehabt. Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Bissen bei Millie’s Cookies im Nottingham Victoria Centre während eines Schüleraustauschs. Doch anders als im zarten Alter von 12 Jahren, als das Leben noch weitgehend analog war, fiel dieses zweite Keks-Heureka-Erlebnis 2024 bei Der Keks in Berlin mit unbegrenztem Internetzugang zusammen. Und so verbrachte ich nach diesem schicksalshaften Ereignis Stunden auf der Instagram-Seite des Keksladens. Ich träumte von saisonalen Geschmacksrichtungen (Himbeerjoghurt, irgendjemand?), die ich nie probieren würde, es sei denn der Laden erweiterte auf wundersame Weise seinen Lieferradius bis nach London. Und dann wurden aus Träumen Taten. Wenn ich ihre Kekse schon nicht bekommen konnte, würde ich wenigstens ein ebenso leckeres Gebäck finden. Kekse als Lebensaufgabe.

In meinen ersten Tagen als unschuldige Geschmacksorgasmenjägerin hatte ich ziemlich niedrige Standards. Alles, was unter die gröbste Kategorie Gebäck fiel, wurde getestet. Doch so sorgfältig ich auch kaute, es gab kein Croissant, keinen Kuchen, der mein Verlangen stillen konnte. Nichts kam an das Geschmackserlebnis des Berliner Kekses heran.

Prompt kam Instagram zur Rettung herbei. Mit jedem echten Gebäck, das ich probierte, tauchten in meinem Instagramfeed Clips auf, in denen jemand einen immer perfekteren Keks in zwei Hälften brach, was schließlich in einer „For You”-Seite gipfelte, die von Keksinhalten dominiert wurde. Der Auftrag war klar: Ich musste mich exklusiv auf Kekse fokussieren, und zwar große.

Eine eindeutige Mission

Zum Glück war ich am richtigen Ort. Als ich meinen sechswöchigen Aufenthalt in Madrid plante, träumte ich von Nachmittagen in Galerien und Buchhandlungen. Womit ich nicht gerechnet hatte: An jeder Ecke würden mir verlockende Kekse angeboten werden. Madrid = meine backstein-gewordene For-You Seite. Während ich mich also zwang, mich auf Bosch, Velazquez und Goya zu konzentrieren, konnte ich nur an meinen nächsten Keks mit Beeren-, Vanille- oder Ganache-Überzug denken.

Es war als ich eine Mini-Zimtschnecke aß, die in einen Keks eingebacken und in Zuckerguss und Pistaziencreme getaucht war und das Geschmackserlebnis so mittel fand, dass mich der Verdacht beschlich es reichte jetzt vielleicht. Je mehr Kekse ich konsumierte, desto weniger schmeckten sie mir.

Aber auf Instagram und seine Food-Content-Influencer war verlass. Sie erstickten gekonnt jede Stimme der Vernunft. Die Stellenbeschreibung eines Cookie-Influencers schien darin zu bestehen, sich mit süchtig machender Hingabe Kekse in den Mund zu stopfen, vorzugsweise auf einem Parkplatz sitzend, und die Welt in den Kommentaren darüber spekulieren zu lassen, wie sie es schafften, wider ihres immensen Kekskonsums schlank zu bleiben (man munkelt, manche Influencer spucken halb gekaute Keksbissen aus, wenn ihre Handys ausgeschaltet sind!). Einen Moment lang befürchtete ich, dass diese spezifische Kombination aus dünnen Armen, die dicke Kekse in rangezoomte Münder schoben bedeutete, dass ich in der Ecke des Internets angekommen war, wo sich die Pro-Ana- und Softporno-Communitys trafen. Und dennoch: wie hätte ich das Urteil der Food-Influencer ignorieren können, das Amsterdam als El Dorado der Food-Trends deklarierte? Vor allem, da ich im August eh dorthin reiste.

Und so lernte ich, dass die Haschich-Hauptstadt auch einen viralen Keks zu bieten hatte, für den die Leute bereitwillig Schlange standen. Und nicht irgendein viraler Keks, sondern einen aus einer Bäckerei, die seit fünf Jahren nur diesen einen Keks backt. Nicht nur diesen einen, über fünf Jahre perfektionierten Keks, sondern ein Keks der während einer historischen Bootsfahrt in einem hübschen Körbchen ins Boot gelassen wird, damit man ihn OHNE ANSTEHEN während der Kanalfahrt probieren konnte. Nicht mehr und nicht weniger als eine wasserbasierte Keks-Apotheose.

An dem Tag, an dem ich erwartete, dass meine Geschmacksknospen dauerhaft neu verdrahtet würden, ließ ich mich in ein orangefarbenes Boot hinab und positionierte mich an einer strategisch günstigen Stelle, an der ich dachte, das der Kekskorb heruntergelassen werden würde. Wie hat der Keks geschmeckt, fragt ihr euch vielleicht? Ich wünschte, ich könnte es euch sagen. Was ich euch sagen kann, ist, dass ich den schlimmsten Anfall von FOMO erlebte, als ich sah, wie die Crew die Kekse verteilte. Die Bäckerei hatte es nämlich gewagt, eine neue Geschmacksrichtung hinzuzufügen. Dies führte dazu, dass nur einige ausgewählte Passagiere den originalen Keks mit dunkler Schokolade und weißen Schokoladenstückchen erhielten, während andere mit einem hellen Schokoladenkeks abgespeist werden würden. Es war eine perverse Kekslotterie. Nachdem ich zwei falsche Kekse an andere Bootsfahrer weitergegeben hatte – Versessenheit als Großzügigkeit getarnt – bekam ich am Ende trotzdem die falsche Sorte. Anstatt zu kauen, starrte ich die auserwählten Passagiere mit irren Augen an, entschlossen, telepathisch etwas von der keksinduzierten Ekstase abzubekommen, die sie meiner Meinung nach spüren würden. Dann: ein Moment der Anspannung. Ein Passagier wagte es, der Bootsbesatzung einen halb aufgegessenen dunklen Keks direkt vor meiner Nase zurückzugeben, während die anderen Passagiere, die meine manischen Blicke inzwischen bemerkt hatten, den Atem anhielten, sollte ich mich tatsächlich auf die Essensreste eines Fremden stürzen. Als ich schließlich aus meiner Trance erwachte und mechanisch an meinem minderwertigen Keks knabberte, schmeckte er ein wenig wie ein Millie’s Cookies Keks – also vor allem nach der bitteren Erkenntnis, dass ich mit 32 einem Keks von Berlin über Madrid bis nach Amsterdam hinterhergejagt war, nur damit ich am Ende so etwas aß, wie das, was ich mit 12 in einem Einkaufszentrum einer mittelgroßen englischen Stadt probiert hatte.

Ich stolperte vom Boot, immer noch hungrig nach dem lustloss gegessenen Keks, kaufte mir bei einem Straßenhändler ein Stück Blaubeer-Streuselkuchen und ließ mich auf eine Parkbank fallen. Eingewickelt in triste Frischhaltefolie wäre dieses Kuchenstück auf Instagram kaum als essbar durchgegangen. Und doch. Ich nahm den ersten Bissen und konnte es kaum glauben. Da war sie, diese Berliner Geschmacksexplosion! Was für ein Genuss!

Im sanften Nachmittagslicht, wurde es mir endlich klar. Das, was mich an dem Berliner Keks vor all den Monaten so umgehauen hatte, war nicht irgendeine Zutat, sondern die Tatsache, dass ich ihn nicht akribisch geplant hatte. Dass ich ihn nicht schon tausendmal virtuell probiert hatte, bevor ich schließlich in das Original biss. Mit noch buttrigen Fingern griff ich mein Handy, öffnete den Homescreen und drückte bei dem berüchtigten rosafarbenen Quadrat auf „App entfernen“.

Ich war wieder bei Sinnen.