Como un pulpo en el garaje 

Dt.: Wie ein Oktopus in einer Garage

“Como un pulpo en el garaje / Wie ein Oktopus in einer Garage”. Diese spanische Redewendung beschreibt jemanden, der verloren, verwirrt oder völlig fehl am Platz ist. Und könnt ihr es nicht sehen? Das Bild eines Oktopus, der seine Tentakeln über Gartenscheren und Auspuffrohre tasten lässt, in der verzweifelten Suche nach Vertrautheit. Ich habe diesen Ausdruck geliebt. Bis ich selbst zum Pulpo wurde, der aufgrund der familiären Umstände meines Freunds für mindestens die Hälfte des Jahres in eine fremde Umgebung verpflanzt wird. Aber statt eines achtarmigen Cephalopoden bin ich eine zweiarmige Stadtliebhaberin und in meinem Fall ist die Garage der Vorort einer provinziellen Strandstadt in der Bucht von Cadiz, gegenüber der Küste Afrikas. Ein terrakotta- und cremefarbener, mit Türmchen geschmückter Vorort, der halb leer ist, außer für ein paar Monate im Sommer, wenn schweißgeplagte Madrilenen in Scharen in ihre Zweitwohnsitze strömen, um der Hitze der Hauptstadt zu entfliehen. Im Grunde bin ich aus den grün belaubten Straßen meiner Ökoblase im Norden Londons in etwas gezogen, das sich wie eine leere Hochzeitstorte anfühlt. Und so haben meine Tentakel in den letzten zwei Wochen verzweifelt nach etwas gesucht, an dem sie sich festhalten können. 

Tentakel 1: Stille 

Das erste, was mich alarmiert, ist die Stille. Wir kommen am Freitagabend in unserer neuen Wohnung an und keine Menschenseele ist auf den Straßen. Ich wache auf und höre – nichts. Ich gehe auf meinen Mittagsspaziergang und sehe – niemanden. So stelle ich mir die Welt nach der nuklearen Apokalypse vor. Grillen zirpende Stille. Oder eher wie Palmenblätter raschelnde Stille. Denn im Gegensatz zu Menschen findet man Palmen hier überall. (Ich fürchte, mit dieser Erwähnung von Palmen verliere ich den letzten Leser, der auch nur im Geringsten Mitleid mit mir hatte. Aber bleibt dran, Leute! Es wird tragischer.) 

Tentakel 2: Nahrung 

An unserem ersten Morgen gehen wir zum Frühstück in eine nahegelegene Bar. Als ich durch die Tür trete, ist mir sofort klar, dass dies nicht die Art von Lokal ist, in dem man nach Hafermilch fragen kann, wenn man sicher gehen will, dass einem niemand in den Kaffee spuckt. Aus dem Fernsehen dröhnt der „Jagd- und Fischerei“-Kanal, die Sendung die läuft: „Pura Caza – Reine Jagd“. Die Handlung dreht sich um Spanier mittleren Alters, die sich mit einheimischen Usbeken zu Pferd zusammentun, um „traditionell“ zu jagen … mit Gewehren. Während Javi und Gonzalo im Fernsehen ein Karibu oder so etwas häuten, kommt der Kellner vorbei, um unsere Bestellung aufzunehmen. Zur Auswahl stehen gekochter Schinken, Rohschinken oder Truthahn – für mich also Brot. 

In dieser als Gewächshaus Europas gepriesenen Region könnte man leicht dem Irrglauben verfallen, dass es hier eine Fülle von Gemüsesorten gibt, wenn man essen geht, aber lasst euch nicht täuschen. Ironischerweise findet man das gesamte hier produzierte Gemüse in meinem örtlichen Lidl in Wood Green, Nordlondon. Sogar bei einem Mittagsbuffet für 20 Personen bei einer Geburtstagsparty kann ich nichts finden, das nicht beige, frittiert oder erst vor kurzem lebendig war. Hallo, Oktopus, alter Freund. Als Vegetarierin in Andalusien sollte man also stärkehaltige Lebensmittel besser mögen, denn abgesehen von Brot und Kartoffeln ist man hier draußen in einer vegetarischen Wüste. 

Tentakel 3: Klima 

Hier kommt das wohl unverständlichste Problem, über das man sich im November gegenüber einem Publikum auf der Nordhalbkugel beschweren kann. Sonnenschein. Die italienische Seite meiner Familie hat mir zwar ihre wilden Augenbrauen vererbt, aber ihre Hitzeresistenz haben sie für sich behalten. In diesem kurzen Leben musste ich mir bereits acht Muttermale wegen Verdachts auf Hautkrebs entfernen lassen. Meine grünen Augen verziehen sich zu einem einbetonierten Stirnrunzeln, sobald wir 400 Lux erreichen (Sonnenaufgangs- und -untergangsbedingungen). Bei 24 Grad schwitze und schwelle ich an. Bei 29 Grad bin ich eine Gift und Galle spuckende Pfütze von einem Menschen, der jeden hasst, der auf dieser verbrannten Erde umherwandert. Was für ein Glück, dass ich nun Teilzeit an einem Ort wohne, wo ich eine verdammte Sonnenbrille aufsetzen muss, um den Müll rauszubringen. 

Tentakel 4: Strand 

Ich verstehe Strand nicht. Seit ich zum ersten Mal in die Heimatstadt meines Freundes kam, ist mir klar, dass wir zwar ähnlich aussehen, die Menschen hier aber einer völlig anderen Spezies angehören, die sich dadurch unterscheidet, dass sie sich damit zufrieden gibt, stundenlang im Sand zu sitzen und NICHTS zu tun. Und jetzt, wo ich dem Strand jeden Tag ausgesetzt bin, wird es nicht besser. Es gibt Momente, in denen ich denke, wenn ich noch einmal dieselbe weite Fläche in Beige und Türkis sehen muss, schrei ich. Gebt mir jederzeit den endlosen grauen Himmel eines Londoner Herbsts. Logischerweise haben wir eine Wohnung in Strandnähe gemietet. So kann ich einfach zu Fuß nach Hause gehen, wenn mir unweigerlich vor allen anderen langweilig wird. 

GÄÄÄÄHN

Tentakel 5: Fort(!)bewegung 

Und das ist noch etwas, das diesen Ort so klaustrophobisch macht. Wie schwer es ist, hier wegzukommen. In London kann ich einen Bus nehmen, der alle 8 Minuten nach Kings Cross fährt, dort in den Eurostar springen und 4 Stunden später in Paris sein. In dieser Stadt geht ohne Auto quasi nichts. Zugegeben, es gibt Fahrradwege (eine große Verbesserung gegenüber London!) und einen Bus. Aber die sind nutzlos, es sei denn, man möchte zu ganz bestimmten Zeiten an eine sehr begrenzte Anzahl von Orten gelangen. Züge fahren in die nächste Stadt und sogar nach Sevilla, aber wenn man mitfahren möchten, muss man sich organisieren, da die Züge einen Monat im Voraus ausgebucht sind. Wo ist die spanische Spontanität, wenn man sie mal braucht?! Wenn alle erdgebundenen Stricke reißen, kann man ein Boot nach Cadiz nehmen. Wenn die See nicht zu rau ist. Und wenn man genau zur richtigen Zeit am Hafen ankommt. 

Tentakel 6: Meine Herde 

Und es ist keine Überraschung, dass es so wenig Angebote gibt, wegzukommen, denn insgesamt gibt es nicht viel Nachfrage. Die meisten Leute, die hier leben, sind unerträglich zufrieden damit, genau hier zu bleiben. Auf dem Weg zu meinem ersten Nervenzusammenbruch am Strand nach dem Brotfrühstück bei Jagdsendung höre ich eine Frau sagen: „Das hier ist unbezahlbar. Ist es nicht unglaublich, dass wir hier leben dürfen?“. Der Wunsch, irgendwo anders in der Provinz zu leben, geschweige denn in einem anderen Land, stößt auf völliges Unverständnis. Und das Ärgerlichste an all dem ist der nagende Verdacht, dass, wenn die Leute hier diese Art von Zufriedenheit gefunden haben, in der Abwesenheit all der städtischen Vorzüge, die ich für meine Selbstverwirklichung für unverzichtbar halte, vielleicht liegt das Problem ja dann bei mir?! 

Tentakel 7: Paarungsverhalten 

Bisher habe ich hier 3 Daseinsformen von heterosexuellen Menschen in den Dreißigern beobachtet. 1. Verheiratet mit Kindern 2. Auf die Hochzeit sparend 3. Überlegend, ob man zuerst heiratet oder schwanger wird. Ich plane nichts davon zu tun. Folglich habe ich mich seit unserer Ankunft mit niemandem so verbunden gefühlt wie mit der Apothekerin, bei der ich ein Mittel gegen Mückenstiche kaufe. Sie sagt: “Wenn die Temperaturen, die wir heute erleben, nicht Klimawandel sind, dann weiß ich auch nicht”. Ich hätte sie küssen können. 

Tentakel 8: Unterhaltung 

Trotzdem braucht es mehr als Palmen und endlose Sandstrände, um eine Kulturliebhaberin tot zu kriegen. Am ersten Wochenende nehmen wir das Boot nach Cadiz, um eine Vorführung lateinamerikanischer Dokumentarfilme zu besuchen. Konditioniert durch Londons Vorbuchungswahn renne ich 10 Minuten vor Veranstaltungsbeginn durch die Straßen (Merke: die angegebenen Bootsfahrzeiten sind eine grobe Schätzung), nur um mich mit 3 Rentnern in einem riesigen, umgebauten Getreidespeicher wiederzufinden. Zumindest ist dieses Publikum leichter aus dem Weg zu räumen, sollte es jemals einen erbitterten Kampf um Tickets für eine kulturelle Veranstaltung geben. Davon angespornt entdecke ich genau ein Buch-Café und ein Café, das Hafermilch serviert und wo das Personal nicht losrennt, um die Mikrowelle einzuschalten, wenn ich Tee bestelle. Bloß weil Tee hier in der Karte steht, heißt das nicht zwingenderweise, dass ein Wasserkocher vorhanden ist. Ich schätze, das ist Karma, dafür dass ich mich so oft über Entscheidungsmüdigkeit in London beschwert habe. 

Nach diesen ersten zwei Wochen bin ich also noch kein Pulpo, der sein bestes achtarmiges Leben lebt. Aber vielleicht ist das auch gar nicht das Ziel. Als ich mich fertig mache, um in das Hafermilch-Café zu gehen und dies zu schreiben, trage ich meinen üblichen Concealer unter meinen Augen auf, nur um wenige Minuten später einen Panda im Spiegel zu erblicken. Ohne dass ich es merke, verändert mich dieser Ort bereits. Ob ich es will oder nicht.