Von meiner Reise zur britischen Staatsbürgerschaft
„Ich erkläre und bekräftige feierlich, aufrichtig und wahrhaftig, dass ich, wenn ich britische Staatsbürgerin werde, Seiner Majestät König Charles III. sowie seinen Erben und Nachfolgern gemäß dem Gesetz treu sein und wahre Loyalität bewahren werde.“
Nach 6 Jahren ist es endlich geschafft. Was mich emotional berührte, war der Anblick der britischen Flagge. Die Art, wie sie fachmännisch mit einer Haarspange an einem schwarzen, mit Lichterketten umschlungenen Rosenspalier festgeklippt war und all dies über dem Porträt meines neuen Königs thronte, das auf einer Staffelei stand. Es war, als flüsterten die Blau-Weiß-Rot-Farben uns von ihrer improvisierten Konstruktion aus zu: „Wir wissen, wie wackelig das alles hier ausschaut, wenn man zu genau hinsieht“.

Ich hatte bei meinem Schwur allerdings nicht erwähnt, dass ich mehr als für jede Blutlinie ein weitaus stärkeres Gefühl der Verbundenheit zu einer anderen Art von blauer Linie empfinde. Man könnte sagen, dass sie, genau wie die königliche Familie, eine Geschichte hat, in der sie dem britischen Volk Leben und Tod, Glückseligkeit und Chaos beschert hat – die Piccadilly-Line. Da ich in Londons Zone 3 lebe, habe ich in den letzten 6 Jahren wahrscheinlich die meisten meiner wachen Stunden irgendwo auf ihren dunkelblauen Bahnen verbracht. Schwarzer Rotz und trotziger Stolz im zweiminuten Takt.
South Kensington
Sie war von Anfang an da. Ein Bild von meiner Mutter und mir in London zu meinem 18. Geburtstag. Ich stehe vor dem South Kensington Halteschild und strahle. Man kann bereits die wahnsinnige Entschlossenheit spüren, die nötig sein wird, um mein Leben aus einer behüteten westdeutschen Kleinstadt an einen Ort mit niedrigeren Löhnen, schlechter isolierten Wohnungen und einer höheren Kriminalitätsrate zu verlegen und das als wahrgewordenen Traum zu bezeichnen. Wir haben jedoch ein dichteres Schienennetz!
Turnpike Lane
Als ich auf dem Weg zur Uni den rußigen Rolltreppentunnel an der Turnpike Lane Station hinunterfahre, spüre ich zum ersten Mal ein Gefühl von Verbundenheit mit den Briten. Rechts stehen, links gehen. Wer diese goldenste aller U-Bahn-Regeln verletzt, indem er es wagt, bräsig die linke Seite zu blockieren, wird sofort als Außenseiter erkannt und mit anklagendem Blick auf den Hinterkopf und schwerem Atmen auf die Stehseite gedrängt.
Heathrow Airport
Die Piccadilly-Line ist die Touristenlinie. Covent Garden, Leicester Square, sie fährt unter weltbekannten Wahrzeichen her bis zum Heathrow Flughafen. Jeder riesige Koffer, der in den Zug gewuchtet wird, trägt zu meinem Gefühl bei hier heimisch zu sein. Ich muss heute nicht bei Covent Garden aussteigen, denn ich kann morgen oder übermorgen oder überübermorgen wiederkommen.

Hyde Park Corner
Die erste Winterfahrt mit der U-Bahn zur Stoßzeit. Mein Gesicht wird in die winterbemantelten Achselhöhlen eines Mitfahrers gepresst. So riecht das also. „Wir müssen momentan an einer roten Ampel warten, um die Fahrten gleichmäßiger zu verteilen, sollten aber in Kürze wieder losfahren.“ Das erste Mal, dass ich Teil eines kollektiven, Schal-gedämpften Stöhnens bin.
Leicester Square
Ich bin Teil der Theatermenge, die um 11 aus Soho strömt. Die lichtdurchflutete U-Bahn schlängelt sich durch die Dunkelheit. Betrunken oder nüchtern, niemand zuckt mit der Wimper, wenn die Mäuse auch Lust auf eine Fahrt haben. Der klebrige Saft (?🙏🏻!) einer liederreichen Nacht klebt an meinen Schuhen, während ich die letzten Meter durch die Nacht nach Hause stapfe.
Piccadilly Circus
Die erste Sommerfahrt mit der U-Bahn-Fahrt zur Stoßzeit. Ein Lehmofen. Mein Gesicht wird in die entblößte Achselhöhle eines Mitfahrers gepresst. So riecht das also. Während ich mir den Schweiß eines Anderen (?!) von der Stirn wische, entdecke ich eine sitzende Dame mit einer Ventilatorhalskrause. Dieser Schamlosigkeit ist der Grund, wieso ich britisch werden will. Wenn ihr jemals etwas gesehen und gedacht habt „Wer würde das jemals tragen!?“, findet ihr es wahrscheinlich in der Piccadilly. Kombiniert mit betonter Lässigkeit.
Knightsbridge
Ein paar Jahre später. Ich starre mit müden Augen und durch krebserregende Luft auf eine Anzeige für verjüngende Hautpflegeprodukte. Die machen doch gemeinsame Sache. Vorsicht vor den sich schließenden Türen.

Kings Cross St Pancras
4 Jahre Pendeln. Ich schaue zurück auf die Köpfe der anderen Bürohengste. Eine homogene Herde, die sich mit wippenden Aktentaschen die Rolltreppen der U-Bahn hochschiebt. Langsam zu gehen wird ein Akt der Rebellion. Meine Beine sind stark von den Jahren, in denen ich Menschenmengen-meidende Wendeltreppen hochgestiegen bin.
Victoria
6 Jahre auf der Linie. Ich weiß, wie ich Piccadilly und ihre Endlosfahrten meide. Der schnellste Weg von South Kensington nach Finsbury Park? Fahrt zwei Stationen mit der Cirlce oder District Linie in die entgegengesetzte Richtung und nehmt die Victoria Linie an der gleichnamigen Station.
Wood Green
Obwohl ich sie seit einigen Jahren meide, durfte die Piccadilly an meinem großen Tag natürlich nicht fehlen. Nach der Einbürgerungszeremonie fahren wir mit der Piccadilly Line von Wood Green nach Holborn, um festliche Scones zu essen. Das Schaukeln des Zuges erinnert mich an die Anfangszeit. Das Klappern klingt wie Heimkehr. Von heute an kann ich, egal wohin mich das Leben führt, immer zurückkommen und ein paar Haltestellen mit der Piccadilly Linie fahren, mit meiner Oyster-Karte und meinem blauen Reisepass.
„Ich werde dem Vereinigten Königreich meine Loyalität schenken und seine Rechte und Freiheiten respektieren; ich werde seine demokratischen Werte hochhalten; ich werde seine Gesetze gewissenhaft befolgen und meine Pflichten und Verpflichtungen als britischer Staatsbürger erfüllen.“ > Rechts stehen, links gehen.