Berlin

Behäbig mit einem gROßen B

„Wir SIND langweilig.“ Selten hat ein Drei-Wort Satz so viel Freude in mir ausgelöst. Als mein Freund und ich diese Worte unisono aussprachen, als Antwort auf das Urteil eines Bekannten über den Stadtteil Friedrichshain, in dem wir während unseres bevorstehenden einwöchigen Berlin-Urlaubs wohnen würden, wusste ich zwei Dinge auf einmal: dass ich sowohl meine Reisebegleitung als auch mein Reiseziel außerordentlich gut gewählt hatte. Nach sechs Wochen sengender Hitze in Madrid und einem zweiwöchigen Besuch bei meiner deutschen Familie, führte mich meine Jagd nach Großstadtfeeling, bevor ich im September ins andalusische Hinterland zurückkehre, nach Berlin. Und ich konnte es kaum erwarten, in die hartnäckig gemächliche deutsche Touristenausgabe meiner Selbst zu schlüpfen, in Buchhandlungen zu stöbern, und Galerien und historische Stätten zu besuchen, bevor ich mich um 19 Uhr in unsere Unterkunft zurückziehen würde, vollkommen zufrieden damit, vor dem Schlafengehen die Wikipedia-Seite des Techno-Clubs Berghain zu lesen, anstatt tatsächlich zu versuchen, hineinzukommen.

Treffen Sie Frau und Herrn Behäbig, hier abgebildet vor der Spandauer Zitadelle

Vielleicht ist unsere gemütliche Energie auch eine Reaktion darauf, dass sich dieser Teil unseres Sommers so digital nomadisch anfühlt wie nie zuvor. Während unser Zuhause immer neue Formen annimmt – die Wohnung von Freunden, das Bett in meinem alten Kinderzimmer, bis hin zu unserer Berliner Bleibe – ein Ort, der sich sehr bemüht, kein Hotel zu sein, aber, seien wir ehrlich, eins ist – fühlte ich mich noch mehr zu meinen alten Gewohnheiten hingezogen und, wie mir in Berlin auffiel, zur materiellen Beschaffenheit meiner Umwelt. Ein Ersatzanker in Abwesenheit einer festen Wohnanschrift. Hier also ein Bericht über meinen Urlaub in Berlin in 7 Objekten.

  1. Hafermilchkartons

    Wir kamen am Montagnachmittag in Berlin an und die Stadt begrüßte uns mit breiten Straßen unter bewölktem Himmel, Wetter also, bei dem man tatsächlich etwas unternehmen kann. Ich könnte die veganen Dönerläden oder die überall in der Stadt hängenden Plakate der Kunstbiennale als Zeichen unserer Ankunft nennen. Aber das wirklich prägende Merkmal Berlins in der vergangenen Woche waren mehrere (also mehr als eine!!) Frauen in wallenden Schwarztönen, die Sixpacks Oatly-Hafermilch mit ernster Miene durch Berlins breite Straßen trugen, als wären sie Teil eines gigantischen, mehrtägigen Performance-Acts. Sogar in unserem Hotel gab es winzige Exemplare davon. Die Obsession ist echt.

    Die Berliner Farbpalette für tragbare Kleidung und anscheinend das Getränk ihrer Wahl.

    2. S3

      Der einzige Wunsch meines Freundes für unsere Reise war, unsere Tage nicht mit dem Besuch der zehn beliebtesten Sehenswürdigkeiten Berlins zu verbringen. Nicht, weil wir zu cool sind (falls man es auf dem obigen Foto nicht erkennen kann), sondern weil wir beide schon mehrmals in Berlin gewesen sind und seine Wahrzeichen kennen. In der Konsequenz verbrachten wir daher ungewöhnlich viel Zeit in der S3. Ihre schwankenden Waggons brachten uns vom östlichsten in den westlichsten Teil der Stadt und gaben mit ihren schwarz-blau karierten Sitzen dem Tempo, das wir uns für unseren entspannten Stadtaufenthalt vorgestellt hatten, eine Form.

      Nur eine der vielen interessanten Orte, die man mit der S3 + Bus erreichen kann. Den Grunewald Park.

      3. Tänzerin mit Zimbeln, Antonio Canova, Bode-Museum

        Ich hätte nie gedacht, dass Marmor so lebendig aussehen kann. Röcke, die mitten im Schwung eingefroren zu sein scheinen, ein Nabel, der sich unter Stein abzeichnet wie unter Gazestoff. Von dem Moment an, als wir das Bode-Museum betraten, war der Ort eine Offenbarung. Angefangen damit, dass wir durch die kuppelförmige Eingangshalle huschten, mit niemandem außer dem Reiterstandbild von Friedrich Wilhelm von Brandenburg als Zeuge (wo waren alle?!). Der kostenlose Audioguide verwandelte mich dann von einer, die normalerweise etwas ungeduldig gegenüber christlicher Ikonographie ist, in eine, die eifrig drei Stunden ihres kostbaren Jahresurlaubs in einer der wohl laszivsten europäischen Hauptstädte damit verbringt, eine byzantinische Elfenbeindarstellung der 40 Märtyrer von Sebaste aus dem 10. Jahrhundert zu betrachten. Was verursachte diese Magie? Zunächst einmal gab es einen ganzen Raum, der Achtsamkeitsmeditationen gewidmet war, inklusive Kissen zum Sitzen auf dem Boden zwischen Donatello-Skulpturen. Die Meditationstracks nahmen Bezug auf die Museumsumgebung und luden zu einem umherschweifenden, zwanglosen Schauen ein. Ein schöner Kontrast zur imposanten Architektur des Museums. Anschließend können Besucher aus verschiedenen thematischen Audiotracks wählen, die Exponate zum Thema ‘Die Rolle der Frau’ oder ‘Queere Liebe’  hervorheben. Und als Krönung gibt es einen fantastischen Buchladen und ein Café!

        4. Porzellan

        Es gibt nur wenige Dinge, die die Abenteuerlust meines Freundes und mir besser beschreiben als unsere Reaktion auf den Anblick einer Gruppe weißhaariger Menschen in beigen Jacken, die vor uns auf einen Ort zusteuerten: „Hier sind wir richtig!“ Obwohl wir diesmal sogar die Rentner an Nerdigkeit übertrafen. Wir waren nämlich die Einzigen, die an der kostenlosen einstündigen Führung durch Schloss Charlottenburg teilnahmen. Und es war die beste Entscheidung. Ich will nicht 65 Jahre alt werden, ohne zu wissen, dass die Nazis preußische Gemälde so sehr liebten, dass sie die Kunstwerke während der Bombenangriffe auf Berlin im Zweiten Weltkrieg von Schloss Charlottenburg in einem Bunker umlagerten und mittelmäßige Kunst dort unterbrachten, wo sie Menschen hätten retten können. Die 2.700 Stücke chinesischen Porzellans aus dem 18. Jahrhundert im Porzellankabinett des Schlosses hatten jedoch nicht so viel Glück und wurden durch  Bombenangriffe und die Wut ausländischer Soldaten zerstört. Jahre später entdeckte die Stiftung des Schlosses Porzellanstücke aus genau derselben Zeit im Schatz eines gesunkenen Schiffes, kaufte das Ganze und restaurierte den Raum in seiner alten Pracht. Wer es den Faschisten wirklich heimzahlen will, muss offenbar auf chinesisches Porzellan aus dem 18. Jahrhundert setzen! Menschen!

        5. Flauschige Toilettensitzbezüge

        Freitage sind dafür da zu versuchen, der kapitalistischen Logik zu entfliehen. In Berlin führte mich das natürlich zur Nationalgalerie der Gegenwart im Hamburger Bahnhof und in den Bärenzwinger sowie zu Second-Hand-Läden. Als sich das interessante Stück Stoff, auf das ich neugierig vor einem türkischen Tante-Emma-Laden zuging, weil ich es irgendwie ‘kultig’ fand, als flauschiger Toilettensitzbezug entpuppte, wusste ich, dass es Zeit war, für den Tag Schluss zu machen.

        6. Keksteig

        Wenn ich es mir recht überlege, ist die einzige materielle Konstante, die diesen Sommer, den ich durch Hauptstädte ziehe, zusammenhält, die cremig-krümelig Textur von Keksteig, den ich munter probiere, wo auch immer ich aufschlage. Da meine Keksbesessenheit vor fast genau einem Jahr in Berlin begann, war es keine Überraschung, dass Kekse auch diese Woche eine wichtige Rolle spielten. Es kann sein, dass ich in einem der Läden als „echter Ultra“ bezeichnet wurde. In einer Stadt, in der jeder stur versucht, sich für nichts zu begeistern,  war das wahrscheinlich eine Beleidigung, aber wie ihr unten sehen könnt, war ich zu sehr im Zuckerrausch, als dass es mich gestört hätte.

        7. Bücher

        Ich hatte vor, ein paar Kekse für unsere Zugfahrt nach Amsterdam aufzuheben (unser nächster Stopp), aber ihr könnt euch vorstellen, wie das gelaufen ist … Stattdessen verbringe ich die nächsten sieben Stunden damit, mir meine nicht essbaren Einkäufe einzuverleiben und das hier zu schreiben!

        Ich habe mir geschworen, meinem bereits überquellenden Koffer (Notiz an mich selbst: SINGULAR!), keine Bücher hinzuzufügen, aber wie könnte ich bei diesem Cover widerstehen? Genau deshalb brauche ich dieses Buch. Ich kann (noch) nicht nein sagen. Außerdem wurde es in einem Buchladen verkauft, der in den 70ern von einem Autorenkollektiv gegründet wurde. Wie könnte es anders sein in Berlin. Mit meinem Hauptbahnhof Sanifair Bon (ein 50-Cent-Gutschein, der den Schmerz darüber lindern soll, dass man gerade für das Privileg bezahlen musste, in einem deutschen Bahnhof zu pinkeln) als Lesezeichen würde ich sagen es ist das perfekte Souvenir dieser Woche.