Vom HeimATurlaub
Letzte Woche habe ich ein Versprechen eingelöst. Alles begann vor fünf Jahren mit dem ersten Covid-Lockdown, den ich in einer 40m² großen Londoner Einzimmerwohnung verbrachte, während sich draußen der herrlichste Frühling mit schamloser Hingabe entfaltete. Da mir jeglicher Außenbereich verwehrt blieb, fielen mir bei meinen täglichen, staatlich genehmigten Spaziergängen die unverschämt ungenutzten Balkone in meiner Nachbarschaft schmerzlich auf. Als ich unter einem weiteren sonnendurchfluteten, leeren Balkon stand, schwor ich mir: „Wenn ich jemals das Privileg habe, einen Balkon zu mieten (!) – ich bin schließlich ein Millennial mit einem Abschluss in Geisteswissenschaften – werde ich der Welt zeigen, wie man diesem Raum gerecht wird.“ Fünf Jahre später, mit Blick auf die rötlichen Fliesen des Außenbereichs meiner Mietwohnung, nahm ich mir fünf Tage Jahresurlaub, um dieses Versprechen einzulösen.

Montag
Ich beginne den Morgen damit, mein neues Königreich zu erkunden. Mein L-förmiger Balkon ist mit orangefarbenen Fliesen verkleidet, die einen angenehmen Kontrast zum türkisfarbenen Himmel bilden. Auf einer Seite stehen Pienien, die bis zum Balkon reichen, und den Eindruck vermitteln, in einem Baumhaus zu sitzen, wenn man auf einer Sonnenliege liegt und hinausschaut. Ein paar Meter weiter rechts sehe ich ein Fitzelchen Atlantik in der Ferne schimmern. Es ist ein Morgen, der sich schon wie eine Erinnerung anfühlt. Spatzen fliegen in hohen Bögen über den Himmel. Ihr Zwitschern vermischt sich mit dem mechanischem Knirschen des Müllwagenarms, der die Container unter meinem Balkon leert. Mit Abfahl bespickter Luxus.
Ich suche mir eine Sonnenliege aus den Plastikbalkonmöbeln aus und mache es mir für meine erste Lektüre bequem. Ich lese Hey, guten Morgen, wie geht es dir? von Martina Heftner, Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2024, das von meiner Kindheitsbibliothek direkt auf meinen E-Reader geliefert wurde, staune darüber, was das 21. Jahrhundert so alles kann und fühle mich #gesegnet.
“Die Zeit, wenn man auf etwas Großes hinlebte, war eigentlich das, was man das normale Leben nennen konnte.” (p. 157)
Dienstag
Nach einem erfolgreichen Tag auf dem Balkon, verspüre ich an Tag 2 maximale Begeisterung für Balkonien. Dieser Ort verdient etwas Glamour. Ich ziehe meine neueste Frühlingsmode an und betrete den Balkon, als wäre ich auf einer Bühne.

Die anderen Balkone wissen nichts mit meinen pinken und orangen Streifen anzufangen. Der künstliche Vogel, der lebende Tiere vom Pool des Nachbarn fernhält, floppt unbeeindruckt an seiner Schnur. Sonst regt sich nichts. Ein baumwollener Antiklimax. Also tauche ich ein in Deborah Levys Swimming Home, das mich über die strengen Dächer meiner Nachbarn nach Südfrankreich entführt.

Mittwoch
Ein neuer Morgen, ein neuer Ausflug auf den Balkon. Mit Balkoniens schwindendem Reiz vergeht auch meine Zurückhaltung. Meine Yoga-Übungen werden alberner. Meine Balkonoutfits immer freizügiger. Ich vergesse, dass man mich auf dem Balkon sehen kann … Zeit, mit Her Body and other Parties von Carmen Maria Machado anzufangen.

Donnerstag
Der vierte Morgen in Folge auf der Sonnenliege, und ich bin Balkon gesättigt erreicht. Warum mögen Menschen Balkone? Warum bauen wir Balkone? Um den Betonzweifeln zu entfliehen, beginne ich mit der Lektüre von Leila Slimanis Le pays des autres. Es geht um eine elsässische Figur, die nicht ganz so weit von hier in Marroko lebt. Auch sie hinterfragt ihre Lebensentscheidungen.

Freitag
Wie um meine aufkeimende Langeweile zu strafen, begrüßt mich am nächsten Morgen der Levante Wind. Der Levante entspringt im zentralen Mittelmeer, fegt dann durch das Wüsteninnere von Almería, Europas Treibhaus, und bringt Sand und wahrscheinlich auch Dünger mit sich bis nach Cádiz. Normalerweise verursacht er er heiße und trockene Temperaturen, aber lasst euch nicht täuschen, es ist sehr unangenehm bei Levante draußen zu sein, und der Wind ist unerbittlich. Wie zur Bestätigung meines Arguments wird ein Spatz gegen unser Balkonfenster geschleudert, fällt zu Boden und bleibt bald reglos liegen. Ein Zeichen mit Anders Lustgartens Three Burials drinnen zu bleiben.

Samstag
Ich verlängere meine Balkonpause und gehe zu einem Yogakurs in einem Strandcafé am anderen Ende der Stadt. Nach dem Kurs unterhalte ich mich zufällig mit der einzigen Frau der 30-köpfigen Gruppe, die in meiner Straße wohnt. Als sie mich bei mir absetzt, erklärt sie, dass sie in dem Haus an der Ecke wohnt, mit dem Balkon ganz oben mit den rosa Blumen. Aber die Wohnung erstreckt sich über zwei Stockwerke. Balkon-induzierte Prahlerei. Nachmittags beginne ich mit der Lektüre von Quiero y no puedo von Raquel Peláez über spanische Snobs. Die Tatsache, dass ich durch die ganze Stadt fahren musste, um meine Nachbarin kennenzulernen, lässt mich zum ersten Mal darüber nachdenken, wie unsere Balkone uns voneinander trennen. Ist Balkonien doch nicht so toll, wie ich immer dachte? Will ich überhaupt zu diesem elitären Balkonclub gehören? Mein Yogakurs gipfelt in eine existenzielle Krise. Typisch Samstag halt.

Sonntag
Zurück in meiner Sonnenliege am letzten Tag in Balkonien mache ich es mir mit einer meiner Lieblingsnovellen bequem: Un Dimanche a Ville d’Avray von Dominique Barbéris. Ich liebe dieses Buch, weil es die Dekadenz eines Sonntagnachmittags in der Vorstadt perfekt beschreibt; diese unwirkliche Stille, die dort herrscht aus gestutzten Hecken und halb geschlossenen Fensterläden, die unzählige Dramen ersticken. Und ich bin mittendrin, erdrückt von dem Wissen, dass Balkonien nur deshalb Spaß gemacht hat, weil ich den Balkon wählen konnte, aber nicht musste.

Epilog: Montagmorgen
Keine Rückreise vom Flughafen. Keine Koffer zum Auspacken. Keine Wäscheberge zu waschen. Zurück zur Arbeit, und ich bin voller Tatendrang. Mein von Balkonien ausgeruhtes Ich schafft es sogar noch, vor der Arbeit schnell beim Kiosk vorbeizuschauen, um sein nächstes Versprechen einzulösen: eine vernünftige Lottogewinnerin zu sein.