Lebensweisheiten aus Der Alchimist

Wenn man ein Buch darüber liest, wie Kristalle und Omen einem den Weg zum Glück zeigen können und man dann auf seinem täglichen Weg zur Arbeit anfängt, jeden Kieselstein zu beäugen, ist das sicherlich ein Zeichen dafür, dass etwas im Leben nicht ganz so rund läuft.

Eingeweihte haben es vielleicht schon erraten. Letzte Woche habe ich mir Der Alchimist von Paulo Coelho in meiner örtlichen Bibliothek ausgeliehen. Das Buch, dass das Leben von Millionen von Lesern verändert haben soll. Nachdem ich jahrelang gesehen hatte, wie es als Quelle für scheinbar tiefgründige, aber bei näherer Betrachtung bedeutungslose Zitate in Filmvorspännen verwendet wurde, sah das Cover interessant genug aus, um das Buch mit nach Hause zu nehmen. Oder vielleicht war dies das erste „Omen“, dass ich mich an einer bedeutsamen Schnittstelle in meinem Leben befinde.

Ehrlich gesagt ist es kein Hexenwerk herauszufinden, wofür ich momentan Lebensratschläge brauche. Ich erinnere mich, dass ich noch vor ein paar Monaten selbstgefällig dachte, ich hätte in diesem Blog noch nichts über meinen Freund geschrieben. Unsere Liebesgeschichte hat einfach nicht genug Konfliktpotenzial, um Stoff für einen ausreichend dramatischen Erzählbogen herzugeben: Wir lernten uns kennen. Wir mochten uns. Wir sagten es einander. Und wenn sie nicht gestorben sind dann leben sie noch heute.

Doch dann kommt das neunte Jahr unseres Märchens, ein alternder Vater und ein Pflichtgefühl gegenüber der Familie, das ich theoretisch bewundere, mit dem ich aber in der Praxis zu kämpfen habe, wenn es nämlich bedeutet, vom geschäftigen London in ein verschlafenes Kaff am südlichsten Zipfel Europas in Andalusien zu ziehen, wo die Standardantwort auf die Bestellung eines vegetarischen Gerichts Hühnchen ist und 6 Monate im Jahr Sonnenschein und über 25 Grad garantiert sind (Ich würde hier einwerfen, dass dies meine persönliche Vorstellung von der HÖLLE ist, aber um in die Hölle zu gelangen müsste ich ja erstmal sterben und dort wo mein Freund herkommt, will ich nicht einmal Tod überm Zaun hängen).

Abgesehen von unseren märchenhaften Anfängen war ich immer Stolz, dass wir nicht in Klischees der Paarabhängigkeit verfallen. Wir leben zusammen, aber jeder von uns kocht, wäscht und putzt selbst, wir machen gemeinsam Urlaub, fahren aber auch alleine weg, und wir haben wiederholt vereinbart, nicht zu heiraten. Ich liebe die Tatsache, dass sich das Zusammenbleiben jeden Tag wie eine aktive Entscheidung anfühlt, weil es nicht viele Strukturen oder Verträge zwischen uns gibt, die es schwierig machen, auseinanderzugehen. (Ich meine, ich esse zum Frühstück in meinem Hotelzimmer übrig gebliebene Udon-Nudeln aus einem angesagten Lokal in der Nähe der Hackischen Höfe in Berlin, während ich dies schreibe. Zum Mittagessen werde ich mir wahrscheinlich einen Crookie holen, also eine Kreuzung aus Croissant und Keks. Ihr merkt, ich bin sowas von edgy und unkonventionell unterwegs).

Allerdings ist diese ganze unagepasste Unverbindlichkeit jetzt, wo unsere Zukunftsvorstellungen auseinander gehen, nicht mehr sexy sondern scheiße. Während die Entscheidung meines Chefs, ob ich von Spanien aus arbeiten darf oder nicht, noch aussteht, frage ich mich, was ich mir wünschen soll. Ich bin bereit, London zu verlassen, und ich möchte zusammenbleiben. Aber ich weiß, dass ich die schlimmste Version meiner selbst werde, wenn ich an einem Ort lebe, den ich nicht mag, und als Krönung noch eine Menge lästiger Familienverpflichtungen oben draufkommen. Hätten wir geheiratet, als wir uns kennenlernten, und ich die traditionalle Rolle der hingebungsvollen Ehefrau angenommen, würde sich die Frage garnicht stellen, ob ich meinem Mann bis ans Ende Europas folge, damit er seinen Pflichten als fürsorglicher Sohn nachkommen kann. Andersrum, hätten wir inzwischen Kinder, von denen einige bereits in Großbritannien zur Schule gingen, stünde ein Umzug auf Kosten der Bildung unserer Kinder außer Frage.  

Aber in der Abwesenheit solcher Beziehungsmodelle in meinem Leben, bleiben mir nur die Weisheiten aus Der Alchimist mit seinen Omen und Kristallen. Das Buch erzählt die Geschichte von Santiago, einem Hirtenjungen, der in Südspanien lebt, nicht weit von unserem potenziellem Zielort entfernt (ein Zeichen?!).

Santiago steht auf ein Mädchen aus dem Dorf. Aber eines Nachts träumt er davon, bei den Pyramiden in Ägypten einen Schatz zu finden. Also verlässt er das Dorf, weil die Suche nach dem Schatz bzw. das $tinkreich-Werden seine wahre Berufung im Leben ist und das Mädchen sowieso immer noch da sein wird, wenn er von seinen wilden Abenteuern zurückkommt.

Er trifft einen alten Mann, der ihn ermutigt, seinem Herzen und den „Omen“ zu folgen, die ihn zum Schatz führen, und ihm zwei Edelsteine ​​gibt, die ihm angeblich helfen werden, die „Zeichen“ zu erkennen.

Unterwegs verliebt Santiago sich auch noch in ein Wüstenmädchen. Aber er verlässt auch sie, um den Schatz zu finden, weil sie schließlich ein Wüstenmädchen ist und es gewohnt ist, dass Männer immer wieder ausziehen, und sowieso, sie wird auch noch da sein, wenn er zurückkommt.

Ein anderer älterer Mann (der Alchimist, aber trotz des Buchtitels scheint das irgendwie nebensächlich) sagt ihm, er solle sich an die Omen halten, um sein Schicksal zu erfüllen.

Schließlich kommt er bei den Pyramiden an. Ein fremder Typ verprügelt ihn. Dem Jungen wird klar, dass sein Schatz immer unter dem Baum vergraben war, unter dem er im Süden Spaniens geschlafen hatte. Auf Wikipedia habe ich gelesen, dass dies ein berühmtes Märchenmotiv ist, nämlich zu erkennen, dass das was man sucht, immer schon in Reichweite war man es aber nicht sehen konnte. Irgendwie hatte ich deswegen damit gerechnet, dass Santiago erkennen würde, dass der wahre Schatz in etwas Immateriellem liegt, wie etwa in der Gesellschaft der Menschen, die er liebt. Als Santiago jedoch zurückkehrt, gräbt er tatsächlich eine Truhe mit spanischen Goldmünzen aus und kehrt zum Wüstenmädchen zurück. Ende.

Tief in meinem Herzen weiß ich, dass das Buch völliger Mist ist und dass die einzige (buchstäblich) wertvolle Erkenntnis aus dem Buch, sofern man nicht ein junger Schafhirte ist, der sich niemandem und nichts wirklich verpflichtet fühlt und nicht in einer Welt zu leben scheint, in der sich die Menschen um ihre nächste Mahlzeit / Unterkunft / Andere sorgen, darin besteht, dass man, wenn man eine Truhe mit spanischen Goldmünzen findet, nichts zu befürchten hat, egal, was man danach tut. Ich schätze, das ist es auch, was Leute wie Bill Clinton und Julia Roberts angesprochen hat, die in der Einleitung als Fans des Buches erwähnt werden. Endloses Geld auf der Bank ist eine gute Versicherung, falls all die Kristalle und Omen einen in die Irre führen.

Ein paar Tage, nachdem ich das Buch zu Ende gelesen hatte, fand ich mich vor einem Esoterikladen in Prenzlauer Berg wieder, in dem riesige glitzernde Steine ​​im Schaufenster lagen. (Memo zu Prenzlauer Berg: die Art von Viertel, in dem die Leute bereit sind, für einen australischen Brunch Schlange zu stehen). Ich war für ein Treffen mit meinen Schulfreundinnen dort.

Warnung: Die nächsten Zeilen werden kitschig sein, besonders für diejenigen mit eher ostwestfälischer Gefühlsduselei-Toleranzschwelle, aber was soll ich machen, wenn es das Leben nunmal so schreibt.

Nachdem ich das Wochenende damit verbracht hatte, mich bei meinen Mädels über meine Situation auszulassen und zu hören, wie sie die Höhen und Tiefen des Lebens navigieren, wurde mir glasklar, dass es absurd ist, in Kristallen und Omen nach Antworten zu suchen, wenn es doch egal ist, wo auf dieser Welt ich lande, solange ich meine Leute um mich haben kann. Abgesehen davon glaube ich auch nicht, dass ich in naher Zukunft einen Schatz in den Wäldern Nordrheinwestfalens entdecken werde, also ist es höchste Zeit Der Alchimist wieder zurückzugeben.

Mädels, nächstes Treffen in Andalusien?


Für diejenigen die immer noch in Erwägung ziehen, dieses schreckliche Buch zu lesen, liste ich hier unten mal eine Sammlung lächerlicher Auszüge mit herablassenden „Weisheiten“ auf, die sich auf ärgerliche Weise auch noch widersprechen:

Die ersten fallen in die Kategorie „Tu, was du tun musst, scheiß auf alle anderen, sei kein Feigling“:

  • „Es gibt nur eine Sache, die es unmöglich macht, einen Traum zu verwirklichen: die Angst vor dem Scheitern.“
  • „An einem bestimmten Punkt in unserem Leben verlieren wir die Kontrolle darüber, was mit uns geschieht, und unser Leben wird vom Schicksal kontrolliert. Das ist die größte Lüge der Welt.“
  • „Wir wissen, was wir tun wollen, haben aber Angst, die Menschen um uns herum zu verletzen, indem wir alles aufgeben, um unseren Traum zu verfolgen. Wir erkennen nicht, dass die Liebe nur ein weiterer Anstoß ist und nicht etwas, das uns davon abhält, vorwärts zu kommen, und dass diejenigen, die uns aufrichtig Gutes wünschen, uns glücklich machen wollen und bereit sind, uns auf diesem Weg zu begleiten.“ (Was bitteschön, wenn man aber nun nicht den gleichen Weg gehen will?!?)

Gleichzeitig enthält das Buch eine Reihe von Empfehlungen, die darauf schließen lassen, dass man mit der richtigen Einstellung alles bewältigen und überall Glück finden kann, sodass man seiner Berufung gar nicht folgen muss?!?!?!:

  • „Wenn man auf die Gegenwart achtet, kann man sie verbessern. Und wenn man die Gegenwart verbessert, wird auch das, was später kommt, besser sein. Vergiss die Zukunft und lebe jeden Tag gemäß den Lehren, im Vertrauen darauf, dass Gott seine Kinder liebt. Jeder Tag an sich bringt eine Ewigkeit mit sich.“
  • „Wenn jeder Tag dem anderen gleicht, liegt das daran, dass die Menschen die guten Dinge nicht erkennen, die in ihrem Leben jeden Tag passieren, an dem die Sonne aufgeht.”
  • „Das Universum agiert zu unseren Gunsten, auch wenn wir vielleicht nicht verstehen, wie.“

Und als Krönung des Ganzen die Vorstellung, dass es eigentlich egal ist, was man tut, weil man die Zukunft weder kontrollieren noch vorhersagen kann:

  • „Wenn jemand eine Entscheidung trifft, begibt er sich in Wirklichkeit in eine starke Strömung, die ihn an Orte trägt, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hätte, als er die Entscheidung traf.“

Letzteres ist wirklich eine perfekte Zusammenfassung dessen, wie ich mich beim Lesen von Der Alchimist gefühlt habe. Und wer weiß, vielleicht bin ich nach ein paar Monaten in Spanien eine bekehrte Hühnchenverschlingerin und Sonnenanbeterin. Ich schätze, ihr müsst dran bleiben, um das herauszufinden.